Grüninger

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Ecopop: Nicht weniger, sondern mehr Wissenschaft ist gefragt

Illustration. Tamara Aepli

Ein Gastkommentar mit Carlos Mora auf dem «foraus»-Blog vom 17. November 2014. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.

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Simon Stückelberger schreibt, dass die Ecopop-Initianten die Welt aus der Sicht von Biologen wahrnehmen würden. Ecopop passe deshalb sehr gut in die Welt der Naturwissenschaften und sehr schlecht in die Welt der Menschen und der Sozialwissenschaften. Eine solche Zweiteilung ist jedoch konstruiert und irreführend, denn sie impliziert, dass eine naturwissenschaftliche Denkweise nicht dazu geeignet sei, gesellschaftliche Probleme anzugehen.

Simon Stückelberger verstärkt diesen Eindruck, indem er die Diskussionen um die globale Bevölkerungsgrösse als unzulässige „Quantifizierung des Menschen“ kritisiert – und darin den Vorwurf mitschwingen lässt, eine solche Quantifizierung entspringe zwangsläufig einer naturwissenschaftlichen Weltsicht. Dieser Vorwurf ist aber gleich aus zweierlei Gründen fragwürdig: Einerseits macht er uns glauben, dass die „Quantifizierung von Menschen“ typisch naturwissenschaftlich sei – obwohl sie auch in den Sozialwissenschaften gang und gäbe ist. Andererseits kommen wir in der Politik gar nicht um Quantifizierungen herum, wenn wir faktenorientierte Entscheidungen fällen wollen. Wenn wir über Maturandenquoten, Rentenbezüger, Arbeitslosenzahlen, Spitalpatienten, Kriminalstatistiken oder ökologische Fussabdrücke diskutieren, dann tun wir nichts anderes, als Menschen zu quantifizieren. Es leuchtet nicht ein, warum eine solche Quantifizierung verwerflich sein soll, nur weil sie von Naturwissenschaftlern vorgenommen wird.

Wir brauchen Fakten

In unserem Alltag verlassen wir uns jederzeit auf wissenschaftliche Informationen – wieso sollten wir solche Informationen also ausgerechnet in der Politik ausklammern? Um möglichst weitsichtige Beschlüsse erzielen zu können, braucht es in den meisten Fällen eben nicht nur sozialwissenschaftliche Überlegungen, sondern vor allem auch naturwissenschaftliche Fakten.

Viele Probleme, um die sich die Politik in der heutigen Zeit kümmern muss, können ohne naturwissenschaftliches und technologisches Wissen gar nicht diskutiert, geschweige denn gelöst werden. Wir brauchen die Naturwissenschaften, um Fragen der Energieeffizienz beantworten oder das Potential von erneuerbaren Stromquellen abschätzen zu können. Wenn wir die Nachhaltigkeit unseres Konsumverhaltens beurteilen, müssen wir naturwissenschaftlichen Argumenten genauso Gehör schenken, wie wenn wir über Möglichkeiten zur landwirtschaftlichen Ertragssteigerung diskutieren. Und auch bei Fragen zu Datensicherheit, Drogenpolitik oder Klimawandel ist es ausgesprochen sinnvoll, technologische, medizinische oder naturwissenschaftliche Informationen zu berücksichtigen.

Auch in der Diskussion um das globale Bevölkerungswachstum bräuchte es mehr – und nicht weniger – naturwissenschaftliche Argumente. Es ist schliesslich nicht so, dass Ecopop bei der Analyse der heutigen und zukünftigen Herausforderungen des Bevölkerungswachstums in der Schweiz und auf der Welt völlig falsch liegen würde: Es ist eine Tatsache, dass die Weltbevölkerung beständig grösser wird und dass der Grossteil des Bevölkerungswachstums in Entwicklungsländern stattfindet – und auf Jahre hinaus stattfinden wird. Fakt ist ebenso, dass uns die Ernährung einer immer grösser werdenden Weltbevölkerung vor Probleme stellen wird und dass der weltweit steigende Ressourcenverbrauch beträchtliche Umweltschäden nach sich zieht. Wir sollten deshalb aufhören, so zu tun, als bräuchte es keine Massnahmen, um den Herausforderungen des Bevölkerungswachstums Herr zu werden.

Sollten wir Ecopop deshalb unterstützen?

Nein; zumindest nicht aus wissenschaftlicher Sicht. Denn die Initianten müssen sich zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, den Deckmantel der wissenschaftlichen Objektivität zu missbrauchen, um wenig zielführende und vor allem einseitige Massnahmen vorzuschlagen. Es ist jedoch absolut falsch, wenn Simon Stückelberger dies als Ausdruck naturwissenschaftlichen Denkens darstellt. Das Gegenteil ist der Fall: Würden die Ecopop-Initianten konsequent naturwissenschaftlich argumentieren, dann hätte es auch keinen Platz für Ethnozentrismus und sie müssten die globalen Unterschiede in Bezug auf Bevölkerungswachstum und Ressourcenverbrauch mitberücksichtigen. Die Diskussion um Ecopop bräuchte also mehr und nicht weniger Naturwissenschaft.

In unserer Analyse zur Ecopop-Initiative haben wir versucht, die zahlreichen Ungereimtheiten der Initiative aufzuzeigen:

  1. Die Initianten schliessen voreilig auf einen direkten Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern und einer ökologischen Mehrbelastung für die Umwelt. Eine solche Vereinfachung ist jedoch aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar – zu viele Faktoren bleiben unberücksichtigt.

  2. Die Förderung freiwilliger Familienplanung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit stabilen politischen Verhältnissen, einem verlässlichen Gesundheitssystem sowie einer Stärkung von Frauenrechten einhergeht.

  3. Mit einer willkürlich festgelegten Wachstumsquote für die kleine Schweiz werden wir die nationalen und globalen Herausforderungen des Bevölkerungswachstums kaum in den Griff bekommen. Vielmehr sollten wir wissenschaftlichen Lösungsansätzen mehr Aufmerksamkeit schenken: Eine ausgeklügelte Raumplanung, die Förderung zukunftsträchtiger Energiequellen, die Erhöhung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion und die Etablierung eines nachhaltigen Landwirtschaftssystems könnten viele Folgen des Bevölkerungswachstums abfedern. Auch diese Aspekte blenden die Initianten vollkommen aus.

Wir müssen uns bewusst machen, dass wir uns in einer hochkomplexen Welt bewegen und dass Pauschalisierungen keinen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leistenDer aktuelle Abstimmungskampf rund um die Ecopop-Initiative zeigt einmal mehr, dass mehr Faktentreue und Wissenschaflichkeit in politischen Debatten notwendig wären. Denn die Aussage, dass eine naturwissenschaftliche Denkweise nicht mit der Lösung gesellschaftlicher Probleme vereinbar sei, ist genauso verfehlt wie die Behauptung der Initianten, dass nationales und globales Bevölkerungswachstum in jedem Fall ein Problem darstellt