Grüninger

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Tierversuche sollen nutzen - aber wie?

Ein Totalverbot von Versuchen an Mensch und Tier würde die biomedizinische Forschung zum Erliegen bringen (Bild: Maggie Bartlett, NHGRI).

Ein Gastkommentar auf «Tierversuche verstehen» vom 09. April 2019. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.

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Wer mit Tieren forschen will, braucht dafür gute Gründe. Es ist inakzeptabel, einem Tier Schmerzen zuzufügen, wenn dadurch keine neuen Erkenntnisse für Mensch oder Tier gewonnen werden. Das deutsche Tierschutzgesetz erlaubt Tierversuche nur dann, wenn sie für bestimmte Zwecke wie Grundlagenforschung oder Krankheitsbekämpfung unerlässlich sind (§ 7a Abs. 1 TierSchG), und verbietet Tierversuche für andere Anwendungen wie die Entwicklung von Waffen oder Kosmetika gleich vollständig (§7a Abs. 3 & 4 deutsches TierSchG).

Auch in der Schweiz ist ein Tierversuch unzulässig, “wenn er gemessen am erwarteten Kenntnisgewinn dem Tier unverhältnismässige Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügt oder es in unverhältnismäßige Angst versetzt” (Art. 19 Abs. 4 TSchG).

Was nützt Grundlagenforschung?

Bis hierhin besteht wohl Einigkeit – sowohl bei Forschenden wie auch bei Kritikern von Tierversuchen. Schwieriger ist es, sich auf gemeinsame Definitionen von “Nutzen” zu einigen. Für die meisten ist ein Experiment dann nützlich, wenn es unmittelbar die Entwicklung einer (medizinischen) Anwendung zur Folge hat. Grundlegendes Wissen zu schaffen, stellt für viele jedoch keinen vertretbaren Grund dar, um mit Tieren zu forschen.

Tierversuchsgegner befeuern diese Haltung aktiv. War früher die pharmazeutische Industrie ihr Hauptziel, so rückte in den letzten Jahren vor allem die akademische Grundlagenforschung ins Fadenkreuz. Mit breit aufgegleisten Kampagnen in den traditionellen und neuen Medien werden Grundlagenforschende gezielt attackiert. Der Vorwurf: Das, was sie täten, diene nur der “Befriedigung intellektueller Neugier” und habe keinen Nutzen für Mensch oder Tier.

Eine solche Haltung offenbart eine verzerrte Vorstellung darüber, was Forschung ist und wie sie funktioniert. Zu oft wird Wissenschaft als universell einsetzbare “Problemlösungsmaschine” aufgefasst – verbunden mit der Erwartung, dass besagte Maschine unablässig und unverzüglich Antworten auf all jene Fragen liefert, mit der wir sie füttern. Problemlösung am Fließband, sozusagen.

Messbarkeit nicht mit Nützlichkeit verwechseln

Wenn das Fließband kein verwertbares Produkt ausspuckt, dann sehen viele darin ein Versagen der Wissenschaft. Dabei geht vergessen, dass jede Massenproduktion zuerst einen Prototyp braucht. Und um einen solchen Prototyp bauen zu können, müssen wir erst einmal das nötige Wissen und die richtigen Werkzeuge zur Hand haben.

Deshalb ist die Trennung in “anwendungsnahe” und “grundlagenbezogene” Versuche künstlich – insbesondere, wenn es um die Beurteilung des Nutzens geht. Es ist nicht verständlich, warum die Entwicklung einer lebensrettenden Therapie für HIV/AIDS einen höheren Nutzen haben soll, als all jene Experimente, welche die Grundlagen für die Entwicklung dieser Therapie geliefert haben.

Nur weil der Erfolg praxisnaher Versuche leichter zu messen ist als der Nutzen von grundlagenbezogenen Experimenten, sollten wir nicht den verhängnisvollen Fehler begehen, der Grundlagenforschung deshalb eine geringere Bedeutung zuzuweisen. Ihr Nutzen lässt sich meist erst im Nachhinein und mit mehreren Jahren Abstand zur eigentlichen Entdeckung vollständig beurteilen.

“Intellektuelle Neugier” und ihr Nutzen

Die Entdeckung von Stammzellen gelang in den 1960er-Jahren dank Versuchen an Mäusen. Die wegweisende Natur der ersten Stammzellenexperimente zeigte sich jedoch erst in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten, in welchen die weitere Forschung an Stammzellen und das dadurch beständig wachsende Verständnis über ihre biologischen Eigenschaften die Grundlagen geschaffen haben, um beispielsweise Knochenmarktransplantationen zu ermöglichen oder neue Therapien für neurologische Erkrankungen, Diabetes oder Herzerkrankungen zu entwickeln.

Zwischen der Entdeckung von Stammzellen im Jahre 1963 und den heutigen klinischen Studien und Anwendungen liegt fast ein halbes Jahrhundert. Weiteres medizinisches Wissen und technologische Neuerungen sind in dieser Zeit hinzugekommen und haben neue Anwendungen möglich gemacht. Wie hätten wir diese Entwicklung bei der ethischen Beurteilung der ursprünglichen Mausexperimente vorausahnen können?

Die gleiche Frage stellt sich bei einem Beispiel aus der Hirnforschung. In den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts konnten Forschende dank Versuchen an Fröschen und Katzen nachweisen, dass Hirnsignale nicht nur elektrisch, sondern auch über Chemikalien, sogenannte Neurotransmitter weitergeleitet werden. Auch hier handelte es sich um reine Grundlagenforschung, die erst Jahre später ihre volle Wirkung entfalten sollte. So haben Wissenschaftler beispielsweise herausgefunden, dass viele psychische und neurologische Erkrankungen mit einer Fehlregulation bestimmter Neurotransmitter einhergehen – und entsprechende Medikamente dagegen entwickelt.

Wissenschaft als Ameisenkolonie

Freilich ist nicht jedes Experiment derart bedeutend wie in diesen Beispielen. Wer den Blick nur auf den einzelnen Versuch in der Grundlagenforschung richtet, kommt unweigerlich zum Schluss, dass dieser in der Regel nur einen kleinen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Könnte man also ohne Weiteres auf die Mehrheit der Versuche verzichten?

Wohl nicht, denn Wissenschaft ist mehr als nur die Summe ihrer Teilchen. Sie verhält sich eher wie eine Ameisenkolonie: Entfernt man eine einzelne Ameise aus der Kolonie, dann hat das keine nennenswerte Auswirkungen auf das Funktionieren der Kolonie. Können wir nun daraus schliessen, dass die Arbeit einer Ameise per se “unnütz” ist? Natürlich nicht. Denn der Nutzen einer einzelnen Ameise lässt sich nicht gesondert, sondern nur mit Blick auf die Arbeit aller Ameisen gemeinsam betrachten. Das Zusammenspiel der Ameisen innerhalb einer Kolonie sorgt dafür, dass die Kolonie als Ganzes Arbeiten verrichten kann, welche für eine einzelne Ameise unmöglich wären.

Auf einem ähnlichen Zusammenspiel basiert auch die wissenschaftliche Forschung. Wenn wir jedes wissenschaftliche Experiment gesondert betrachten, dann mögen viele davon unnütz oder überflüssig erscheinen. Doch kaum jemand würde behaupten, dass die Gesamtheit der einzelnen Experimente, d.h. die Forschung als Ganzes, keinen Nutzen besässe. Gemeinsam leisten Forschende, was für einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmöglich zu erreichen wäre: Sie stossen in neue Regionen des Wissens vor und erweitern unser Verständnis von der Welt.

In der Grundlagenforschung lässt sich jedoch nur schwer abschätzen, welche Erkenntnisse in einer Anwendung münden werden und welche nicht. Umgekehrt sollte es aber klar sein, dass eine Anwendung ohne Grundlagen nicht möglich ist. Wir sehen uns deshalb vor das Problem gestellt, dass wir einen Tierversuch für sich gesehen fast immer ablehnen müssten, die Summe aller Tierversuche in der Grundlagenforschung aber zu befürworten hätten.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nur dann, wenn wir die Frage vom Nutzen von Tierversuchen von der Frage vom Nutzen der Grundlagenforschung trennen. Damit können wir nämlich zuerst darüber diskutieren, ob und inwiefern Grundlagenforschung einen Nutzen für unsere Gesellschaft besitzt und dann müssten wir klären, ob und inwiefern Tierversuche einen Nutzen für die Grundlagenforschung besitzen. Wenn Tierversuchskritiker jedoch nach dem “gesellschaftlichen” Nutzen eines einzelnen Experiments fragen, dann vermischen sie diese beiden Ebenen. Eine sinnvolle Antwort wird unmöglich.

Tierversuche nützen der Forschung; die Forschung nützt der Medizin; die Medizin nützt den Menschen

Bei einer Diskussion über den Nutzen von Tierversuchen in der Grundlagenforschung müssen wir also zuerst klären, ob Erkenntnisse der Grundlagenforschung als Ganzes einen Nutzen für die Gesellschaft erbringen. Diese Frage ist im Allgemeinen bejahen. Genauso, wie die Späherinnen innerhalb einer Ameisenkolonie einen Nutzen für das Kollektiv erbringen, indem sie in unbekanntes Territorium vorstoßen, um nach neuen Nahrungs- und Rohstoffquellen Ausschau zu halten, so erfüllen Grundlagenforschende ihren Auftrag innerhalb der Wissenschaft, indem sie sich ungelösten Fragen zuwenden und mit neuen Ideen und Ansätzen die Grundlagen für medizinische Anwendungen schaffen.

Denn wir müssen uns klar machen: In vielen Bereichen steckt die biomedizinische Forschung noch in den Kinderschuhen. Das gilt besonders für die Hirnforschung. Das menschliche Gehirn stellt uns in vielerlei Hinsicht vor Rätsel, deren Lösung zurzeit in weiter Ferne zu sein scheint. Es ist also bei Weitem nicht so, dass wir die Grundlagen bereits beisammen hätten und nun direkt mit der Entwicklung von Therapien beginnen können. Im Gegenteil: Die Späher-Ameisen der Wissenschaft sind immer noch auf der Suche nach dem geeigneten Baumaterial, um Krankheiten wie Alzheimer, Schizophrenie oder Multiple Sklerose besiegen zu können.

Wenn wir zum Schluss kommen, dass Grundlagenforschung einen Nutzen für uns Menschen mit sich bringt, weil sie die notwendigen Voraussetzungen für Therapien schafft, dann müssen wir nun zusätzlich überprüfen, ob Tierexperimente einen überprüfbaren wissenschaftlichen Nutzen im Rahmen der Grundlagenforschung mit sich bringen. Auch hier fällt die Antwort im Allgemeinen positiv aus.

Wer nun einwendet, dass sich diese Grundlagen auch ausschließlich mit Zellkulturen, Organoiden und Computermodellen erarbeiten lassen, der irrt. Wenn wir verstehen wollen, was die biologischen Grundlagen von komplexen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depression oder Demenz sind, dann müssen wir zunächst herausfinden, wie das Gehirn funktioniert. Zellkulturen und Computersimulationen sind dabei wertvolle Hilfsmittel, doch die Untersuchung am lebenden Organismus können sie bis auf Weiteres nicht ersetzen.

Kein Blankocheck für die Forschung

Zurücklehnen darf sich die Grundlagenforschung indes nicht. Denn die Wissenschaft als Ganzes und die Tierversuchsforschung im Besonderen kranken daran, dass zu viele Studien von mangelnder Qualitätund Aussagekraft produziert werden.

Wenn wir also weiterhin garantieren wollen, dass Tierversuche einen wissenschaftlichen Nutzen mit sich bringen, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie nach den höchsten wissenschaftlichen Standards durchgeführt werden.

So sollte die fachliche Ausbildung von Aufsichtsorganen, Ethikommissionen und Forschenden verbessert werden. Es braucht nicht nur Expertinnen und Experten in den Bereichen Versuchstierkunde, Ethik und Tierschutz, sondern auch solche, die statistische und humanmedizinische Expertise mit sich bringen. Denn ein solides statistisches Studiendesign, die Reproduzierbarkeit der Studienergebnisse sowie deren prinzipielle Übertragbarkeit auf den Menschen sind mindestens so wichtig wie tiermedizinische oder ethische Aspekte.

Wer über solide Studiendesigns, experimentelle und statistische Verzerrungen oder die verschiedenen Formen wissenschaftlicher Validität nicht Bescheid weiß, sollte genauso wenig Tierversuche durchführen dürfen, wie jemand, der mangelnde Kenntnisse über Schmerzindikatoren bei Tieren oder ethische Güterabwägung besitzt. Nur so kann garantiert werden, dass das Tiermodell auch in Zukunft ein Garant für neue wissenschaftliche Erkenntnisse bleibt.