Grüninger

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Helvetia weiss es besser

Source: TechInAsia / SAM

Eine Kurzgeschichte verfasst für das Stanisław-Lem-Festival.

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«Soll Universuisse Verhandlungen über einen Beitritt zum Bezosverse aufnehmen?» - «Nein.»

«Soll das Rentenalter von 75 Jahren erhöht werden?» - «Ja, auf 80 Jahre.»

«Soll das aktuelle Grundeinkommen von 3212 Helvetischen Metafranken angepasst werden?» - «Ja, auf 3500 Franken erhöhen.»

David überflog die Fragen auf seinem Netzhautbildschirm – noch 4 Antworten, dann hatte er sein Tagespensum erfüllt.

«Soll der Nothilfefonds für arbeitslose Informatiker:innen um 10 Millionen Metafranken erhöht werden?» - «Nein.»

Helvetia wusste, was wichtig war und was ihn umtrieb. Das machte die täglichen Nationalen Wertebefragungen erträglicher als die vierteljährlichen Volksabstimmungen von früher. Als Helvetia bloss ein kühner Traum war und noch alle behaupteten, politische Entscheide gehörten in die Hände der Stimmbürger:innen und ihrer Vertreter, verfiel das Land alle paar Monate in einen kollektiven Fieberwahn. Gegner und Befürworter einer Vorlage malten den Teufel in den grellsten Farben an die digitalen und analogen Abstimmungsplakate: Stimmt Nein, sonst werdet Ihr arbeitslos! Stimmt Ja oder die Welt geht unter!

«Sollen sich Schüler:innen aus religiösen Gründen von einzelnen Fächern oder Veranstaltungen dispensieren lassen können?» - «Nein.»

Und dann die Wahlen. Hunderte von unbekannten Gesichtern mit Namen, von denen David noch nie gehört hatte, begleitet von nichtssagenden Sprüchen – Für die Freiheit! Für die Familien! Für die Schweiz! –, die er schon hundertmal gesehen hatte.

«Helvetia kennt man wenigstens», dachte David, als er die nächsten Frage ansteuerte.

«Befürworten Sie die Wiedereinführung von Netzsperren an den Grenzen von Universuisse nach dem Vorbild des Chinaverse?» - «Ja»

Davids Eltern hatten aus den Abstimmungs- und Wahlsonntagen ein richtiges Ritual gemacht, mit hitzigen Diskussionen am Frühstückstisch und anschliessendem Familienausflug an die Urnen. In seinen Schwestern loderte das politische Feuer weiter – Miriam war sogar Gemeinderätin, bis Helvetia eingeführt wurde –, doch zu David war kein Funken übergesprungen.

«Sollen digitale Kompetenztests abgeschafft werden, sodass Schweizer Bürger:innen nach 5 Jahren automatisch befragungsberechtigt sind in Universuisse?» - «Nein, beibehalten.»

Einige von Davids Mitreisendenden schienen auch gerade dabei, Helvetia Rede und Antwort zu stehen – manche taten es sogar auf die altmodische Art. Warum jemand freiwillig an der Nutzung von Exo-Tech festhielt, war David ein Rätsel.

«Was immer sie glücklich macht», murmelte er.

«Wie bitte?»

Davids Sitznachbarin sah ihn neugierig an.

«Entschuldigung, ich habe nur laut gedacht. Was hat Ihnen Helvetia heute aufgetischt?»

«Ach, nur ein paar Fragen zur Krankenkasse und zum Rentenalter - wir haben gerade unser zweites Kind bekommen. Ach ja, und dann war da noch eine Frage zu religiösen Dispensen.»

«Oh, die habe ich auch bekommen. Zweimal schon in diesem Monat. Wissen Sie, was es damit auf sich hat?»

«Wahrscheinlich wieder einmal die Violetten. Die pochen ja seit Jahren auf eine Dispensierung von Staatskunde und Mathematik, weil das ihr Recht auf geistige Unversehrtheit verletze.» Mit den Fingern zeichnete sie kleine Anführungszeichen um «Recht auf geistige Unversehrtheit».

«Die gibt es noch? Ein Onkel von mir war da auch dabei, hab‘ aber seit Jahren keinen Kontakt mehr. Unmöglich, mit denen zu reden – beim geringsten Widerspruch wird man stummgeschaltet. Und einen physischen Besuch ist mir das dann doch nicht wert.»

«Dazu sollte mal eine Frage kommen, das gehört endlich eingeschränkt!»

«Stummschalten? Aber das ist doch in der Digitalverfassung verankert.»

«Nein, die physischen Besuche. Ich finde es fahrlässig, wie Helvetia das immer noch ohne Auflagen zulässt. »

«Gibt halt viele Nostalgiker. Meine Eltern muss ich auch meist so besuchen, die wollen von Universuisse nichts wissen.»

«Trotzdem: Wenn man sieht, wie der Epi-Alarm wieder abgeht, wird mir angst und bange. Schlimm genug, dass mein Chef stur die Maximalpräsenzeit verlangt und ich fast jede Woche ins Büro muss.»

Davids Haltestelle wurde angesagt. Er verabschiedete sich, stieg aus und fluchte. Mittlerweile hatte Regen eingesetzt, sodass David im Laufschritt loseilte und zwischen Pfützen hindurch das Büro ansteuerte. Tropfend trat er ein, und wurde fröhlich von seinem Assistenten begrüsst.

«Du siehst etwas nass aus, David. Es wäre eine gute Idee gewesen, einen Regenschirm mitzunehmen, nicht?»

«Was Du nicht sagst. Wenn Du so schlau sind, dann warn’ mich das nächste Mal doch bitte bevor ich im Regen stehe!»

«Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun.»

«Ja, ja, ich weiss. Die von der Rechtsabteilung haben echt einen an der Waffel. Anyway, was steht für heute auf dem Programm?»

Als David sein Büro um 18.00 Uhr wieder verliess, hatte der Regen nachgelassen. David eilte trotzdem, um rechtzeitig in die Oper zu kommen. Er hätte die Metropolitan in New York bevorzugt, aber Lisa zuliebe würde er auch die Grenztests beim Transfer nach London über sich ergehen lassen. Als er sich in der Metro hinsetzte, blinkte ein Update auf seinem Netzhautbildschirm auf:

«Gesetzliche Alpha-Release Updates für den 28. Januar 2072:

A) Das landesweite Grundeinkommen wird um 33 Helvetische Metafranken angehoben und beträgt neu 3245 Metafranken. In den Kantonen Zürich Stadt und Genf beträgt der Anstieg 49 Metafranken.

B) Das Rentenalter wird für die Jahrgänge 2051-72 und 2011-2030 auf 77 Jahre erhöht. Für die Jahrgänge 2031-2050 und 2000-2010 gilt weiterhin ein Rentenalter von 75 Jahren. Die entsprechenden Änderungen treten ab 2075 in Kraft.

C) Die Zollsteuersätze für digitale Transaktionen mit dem Chinaverse, dem Zuckverse...»

Mit einem Blinzeln schob David die Nachricht beiseite. Wenn es etwas Wichtiges gab, würde ihn Helvetia eh daran erinnern.

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Eine erste Version dieser Geschichte wurde auf Englisch verfasst im Rahmen des experimentellen Events «Reatching into the Rabbit Hole» von Reatch zum Thema «Should we replace politicians with algorithms?». Der Event wurde dan den Applied Machine Learning Days 2018 an der EPFL Lausanne durchgeführt.