Grüninger

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Mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe

Impfen ist keine Glaubenssache, es geht um medizinische Fakten. (Bild: Screenshot PHD Comics)

Ein Beitrag aus dem Science Blog von «NZZ Campus» (heute NZZ Karriere) vom 5. März 2015. Den Original-Beitrag gibt es hier zu lesen.

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Ausgelöst durch die neusten Masernepidemien in Berlin und Kalifornien tobt wieder einmal ein öffentlicher Glaubenskrieg um den Nutzen und die Risiken von Impfungen. Es wird wohl nicht das letzte Mal sein.

Dabei sind die medizinischen Behauptungen von Impfgegnern genauso hanebüchen wie die evolutionsbiologischen Thesen von Kreationisten oder die meteorologischen Erklärungen von Klimaskeptikern.

Die Erde wurde nicht in sechs Tagen erschaffen. Der Mensch ändert in der Tat das Klima. Impfungen wirken

Risiken und Nebenwirkungen

Natürlich gibt es auch Risiken. Das bestreitet kein Arzt, kein Wissenschaftler, kein Pharmaunternehmen. Wir Menschen sind derart unterschiedlich, dass es schlicht keine Behandlung, keine Pille und eben auch keine Impfung gibt, bei der sichergestellt wäre, dass sie in jedem Fall völlig ohne Nebenwirkungen bleibt.

Wir müssen deshalb immer den Nutzen einer medizinischen Behandlung und die zu erwartenden Risiken gegeneinander abwägen. Im Falle von Impfungen ist der Nutzen jedoch derart gross, und die Risiken sind so verschwindend gering, dass es eigentlich müssig ist, darüber zu diskutieren.

Mehr Gefahren ohne Impfung

Nehmen wir die Masern-Impfung als illustratives Beispiel. Die Injektion löst bei 10 Prozent der Geimpften leichtes Fieber aus. Erkrankt ein Kind an Masern, dann hat es jedoch in 98 von 100 Fällen hohes Fieber.

Von allen Menschen, die sich gegen Masern impfen lassen, bekommen 0.0001 Prozent eine Gehirnentzündung, also einer pro Million. Bei denjenigen, die tatsächlich an Masern erkranken, ist es hingegen einer in Tausend.

Die Liste liesse sich noch weiterführen; das Fazit bleibt dasselbe: Die Masernimpfung birgt Risiken. Aber diese stehen in keinem Verhältnis zu den Gefahren der eigentlichen Krankheit.

Gurte retten Leben – Impfungen auch

Aus Furcht vor Schäden auf Impfungen zu verzichten, ist deshalb so unvernünftig, wie wenn ein Autofahrer das Anlegen von Gurten verweigert, weil er sich vor Schürfungen am Hals oder Prellungen am Brustkasten fürchtet. Ja, das ist möglich. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen einer Schürfwunde oder meinem Kopf in der Windschutzscheibe, dann weiss ich, wofür ich mich entscheide.  

Das wissen auch die meisten Impfskeptiker. Geht es nämlich um Infektionen mit einer vergleichsweise hohen Todesrate (wie zum Beispiel Starrkrampf oder Kinderlähmung), so ist die Impfmoral um einiges besser als bei Mumps, Masern oder Röteln.

Gefährliche Kinderkrankheiten

Diese «Kinderkrankheiten» heissen so, weil sie früher derart weit verbreitet waren, dass fast jedes Kind davon betroffen war. Das heisst jedoch nicht, dass Kinder daran erkranken sollten.

Kinderkrankheiten stärken weder das Immunsystem noch sind sie wichtig für die geistige oder körperliche Entwicklung, wie das von gewissen Impfgegnern behauptet wird. Nein: Kinderkrankheiten werden von Erregern ausgelöst, deren einziges Ziel die eigene Vermehrung und Verbreitung ist – ob der Wirt dabei Schaden nimmt, ist ihnen herzlich egal.

Impfungen haben massgeblich dabei geholfen, Erkrankungen wie Kinderlähmung, Starrkrampf, Mumps, Masern und Röteln zurückzudrängen oder – im Fall der Pocken – sogar auszurotten. Sie haben ihre Wirksamkeit  bewiesen.

Opfer des eigenen Erfolgs

Doch gerade weil derart viele Infektionskrankheiten fast gänzlich verschwunden sind, bekommen gewisse Menschen den falschen Eindruck, dass Impfungen eigentlich unnötig sind.

Eine solche Haltung gefährdet nicht nur die Gesundheit von jenen Menschen, welche aufgrund eines geschwächten Immunsystems oder ihres geringen Alters keine Impfungen bekommen können. Sie erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Impfstoff nutzlos wird.

Denn je länger ein Erreger zirkuliert, desto eher besteht die Möglichkeit, dass er mutiert und der Impfstoff zumindest teilweise seine Wirkung verliert. Die Wahrscheinlichkeit für Resistenzbildungen ist zwar viel geringer als bei Antibiotika, aber sie ist vorhanden. So konnten im Fall der Kinderlähmung oder des Keuchhustens bereits resistente Viren- beziehungsweise Bakterienstämme nachgewiesen werden.

Impfpflicht – warum nicht?

Wieso verpflichten wir nicht einfach alle zu einer Schutzimpfung? Gegen eine solche Forderung wird oft eingewandt, dass dies nur die politische Opposition gegen Impfungen schüren würde oder dass dies in einer «freiheitsliebenden Gesellschaft» das falsche Mittel sei. Das allein überzeugt nicht.

Denn der Verzicht auf eine Impfung birgt nicht nur persönliche Risiken, sondern gefährdet auch all jene Mitmenschen, welche aufgrund eines geschwächten Immunsystems oder wegen Allergien nicht geimpft werden können. Insofern ist der Impfentscheid eben keine rein individuelle Angelegenheit, sondern hat immer auch gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund wäre eine Impfpflicht bei bestimmten Krankheiten eine vertretbare Massnahme.

Wir verlangen schliesslich auch, dass sich Autofahrer anschnallen und sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Und Widerstand hat es sowohl bei der Einführung der Gurtenpflicht als auch bei der Etablierung des Rauchverbots in Restaurants gegeben.  Forderungen nach mehr Aufklärungsarbeit sind sicher richtig. Doch all jene, die ihre persönliche Meinung prinzipiell über medizinische Fakten stellen, werden sich auch mit zusätzlichen Informationen nicht vom Nutzen der Impfungen überzeugen lassen.

Nachbemerkungen vom 30. November 2020: Den obigen Text habe ich vor über fünf Jahren geschrieben. Und bis auf die letzten drei Absätze finde ich, dass er ganz gut gealtert ist. Einer Impfflicht stehe ich heute jedoch kritischer gegenüber als damals, und zwar aus zwei Gründen: Erstens gewichte ich das Recht von Individuen, über medizinische Eingriffe entscheiden zu können, höher als damals, auch wenn die mit dem Eingriff verbundenen Risiken derart gering sind wie bei Impfungen. Zweitens bin ich skeptisch, ob eine rigorose Impfflicht tatsächlich den gewünschten Erfolg bringen oder nicht vielmehr eine heftige Abwehrreaktion provozieren würde. In meiner Erfahrung: Wenn man Menschen wie Kinder zu behandeln beginnt, dann reagieren sie wie Kinder.

Das heisst nicht, dass ich eine Impfflicht in keiner Situation für zulässig erachten würde oder dass ich mich gegen die Förderungen von Impfungen mittels Anreizen und Aufklärungsarbeit ausspreche - im Gegenteil. Die Welt durchlebt gerade eine der schlimmsten Pandemien seit 100 Jahren und ein breit eingesetzter Impfstoff würde viel Leid verhindern. Doch die Entscheidung darüber, wie der Impfstoff eingesetzt wird, sollte demokratisch legitimiert erfolgen und individuelle Freiheitsrechte mitberücksichtigen.