Oh, what a time to be alive
Ein Beitrag aus dem Science Blog von "NZZ Campus" (heute NZZ Karriere).
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Wir haben es fast geschafft! Noch wenige Stunden bleiben von 2016 übrig – dann ist auch dieses Jahr Geschichte. Bald schon können wir uns darauf konzentrieren, unsere frisch gefassten Vorsätze zu brechen und unsere Fehler vom vergangenen ins neue Jahr zu übertragen.
Vielen steckt 2016 tief in den Knochen. Wir haben einen durch und durch verrückten US-Wahlkampf erlebt, alle reden von einem “postfaktischen Zeitalter” und die Promis sterben – scheinbar - wie die Fliegen. Man könnte meinen, das vergangene Jahr stamme direkt aus der Feder von George R.R. Martin.
Dabei war 2016 war nicht nur schlecht. Immerhin hat es uns eine automatisierte Kaffeeschaumverzierungsmaschine, eine Spielkonsole für Hunde oder schwebende Lautsprecher gebracht. Oh, what a time to be alive!
Dennoch schreiben manche Zeitgenossen so intensiv vom Untergang der westlichen Zivilisation, als hätten sie zu oft K.I.Z. gehört und könnten den Weltuntergang kaum abwarten. Nun: Der Weltuntergang wurde schon in den 80ern von Nena besungen. Wir haben es trotzdem jedes Jahr aufs Neue geschafft, die Zukunft in Gegenwart zu verwandeln, um sie morgen dann nostalgisch als Vergangenheit verklären zu können. Früher war schliesslich alles besser – besonders die Zukunft!
Wir sollten die Relationen wahren: Der Krieg in Syrien, in dem hunderttausende von Zivilisten als geopolitische Bauernopfer herhalten müssen, ist eine menschliche, moralische und politische Tragödie. Der autoritäre Umschwung in der Türkei bedeutet für zehntausende Menschen Verfolgung und Tod. Nicht so der Brexit, die Ablehnung des italienischen Verfassungsreferendums oder die Wahl Trumps zum Präsidenten.
Das soll nicht heissen, dass wir bedenkliche Entwicklungen vor unserer Haustüre einfach ignorieren sollten, nur weil es irgendwo auf der Welt noch schlimmer steht. Es ist rechtsstaatlich höchst problematisch, wenn grundlegende Prinzipien wie Folterverbot oder Recht auf freie Meinungsäusserung frontal angegriffen werden; es ist gesellschaftlich bedenklich wenn Ressentiments gegen Minderheiten oder die “Eliten” geschürt, statt Wertediskussionen geführt werden; und es ist demokratiepolitisch verheerend, wenn sich Oppositionsparteien auf eine “Anti-Haltung” beschränken, ohne konstruktive Gegenvorschläge vorzubringen.
Opposition der Opposition willen – das erwartet man von pubertierenden Teenagern in der Revoluzzer-Phase, nicht von gestandenen Politikeren. Umgekehrt haben die Reaktionen der etablierten Kräfte allzu oft etwas Oberlehrerhaftes: “Wir wissen es besser, also schweigt gefälligst da unten.” Damit lässt sich genausowenig ein Dialog führen wie mit der Verweigerungshaltung gewisser Oppositionsparteien.
Was hat das Ganze nun mit den Wissenschaften zu tun? 2016 machte klar, dass es nicht mehr nur die gerne belächelten Sozialkonstruktivisten sind, welche jeder Form von objektiver Wirklichkeit ins Gesicht lachen, sondern dass diese Form radikalen Wahrheitsrelativismus Eingang ins Waffenarsenal anti-wissenschaftlicher Protestbewegungen gefunden hat. Mit grossem Erfolg: Donald Trump wurde damit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt und sitzt damit an den weltweit weitreichsten Schalthebeln der Macht. Wer den Klimawandel nicht für eine Erfindung der Chinesen und Impfungen nicht für die Ursache von Autismus hält, wird an den nächsten vier Jahren wohl einiges zu kauen haben.
Für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brachte 2016 also ein ernüchterndes Erwachen. Sie mussten erkennen, dass der Verweis auf die Autorität der Wissenschaft nicht (mehr) ausreicht, um die Deutungshoheit zu erlangen. “Yeah Science!” mag dank “Breaking Bad” Kultstatus erreicht haben, aber es war nie ein wirklich überzeugendes Argument im politischen Diskurs.. Dies zu erkennen, ist der erste Schritt zu einer Lösung.
Wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Zukunft in die gesellschaftliche Debatte einmischen wollen – und dazu haben sie als Bürgerinnen und Bürger jedes Recht – dann sollten sie nicht Haare spalten, sondern grundlegende Fragen angehen. Denn keine Hundespielkonsole der Welt gibt uns eine Antwort darauf, in welche Richtung wir unsere Gesellschaft steuern wollen. Wissenschaft und Technik können unser Leben vereinfachen, nicht aber unsere Entscheide.