Dieser Text wurde am 23. April 2021 auf dem Reatch-Blog veröffentlicht. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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«[J]eder Auswertung folgt die Bewertung. Verschiedene Daten, Fachhintergründe, Zeitpunkte – schon hat man Debatten um die wahrscheinlichste Zukunft. Je komplexer die Datenlage, desto grösser die Debatte». Das schrieben der Historiker Konrad Hauber und der Soziologe Marcel Schütz jüngst in der NZZ. Sie bezogen sich dabei auf Prognosen zum Verlauf der Corona-Pandemie, doch ihre Beobachtung lässt sich auch auf Corona-Richtwerte übertragen. Schliesslich handelt es sich beim Vergleich einer statistischen Kennzahl mit ihrem Richtwert lediglich um eine implizite Prognose in Schwarz-Weiss: Liegt der R-Wert unter 1, flacht die Ausbreitung ab, liegt er darüber, geht es exponentiell nach oben. Benutzt werden dabei Daten aus der Vergangenheit, um die Gegenwart zu beschreiben und sich in angemessener Weise auf die Zukunft vorbereiten zu können. Das ist verwirrlich, und zwar aus mehreren Gründen:
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist eine statistische Kennzahl bereits überholt. Man blickt eigentlich in die Vergangenheit und verfällt dabei leicht der Illusion, die Gegenwart zu betrachten. Wer die Kennzahlen beurteilt, muss bedenken, dass die damit skizzierte Wirklichkeit schon einen oder zwei Schritte weiter ist.
Wenn Massnahmen ergriffen werden, um Corona einzudämmen, sorgt das im Idealfall dafür, dass die vom Überschreiten des Richtwerts implizierte Prognose nie Realität wird. Dadurch wirkt es aber so, als sei der Richtwert zu streng angesetzt und fälschlicherweise Alarm geschlagen worden.
Die Auswahl der massgeblichen Kennzahlen ist nicht selbsterklärend. Auch die dazugehörigen Richtwerte sprechen nicht für sich, sondern müssen normativ bewertet werden, um als überzeugende Grundlage für politische Entscheide herhalten zu können. Kennzahl und Richtwert müssen also nicht bloss wissenschaftlich, sondern auch politisch plausibel gemacht werden, um von jenen, welche sich daran orientieren sollen, angenommen zu werden. Beim R-Wert ist das noch vergleichsweise einfach: Bei einem R-Wert von 1 liegt die Grenze zwischen linearem und exponentiellem Wachstum. Und dass ein exponentielles Wachstum von Corona-Fällen über einen längeren Zeitraum für das Gesundheitssystem kaum zu verkraften ist, haben uns Beispiele weltweit vor Augen geführt. Bei anderen Kennzahlen wird das aber schon schwieriger. Wieso beispielsweise der Bund exakt 229.9 laborbestätigte Corona-Fälle pro 100‘000 Einwohner:innen zu einem Richtwert für die jüngsten Öffnungsschritte erklärt hat, lässt sich nur vermuten (Merkblatt BAG).
Es ist also kompliziert. Dennoch wird mit Kennzahlen und Richtwerten gerne vorgegaukelt, dass sie das politische Aushandeln von Entscheiden vereinfachen oder sogar überflüssig machen würden. Tatsächlich verlagern sie die politische Debatte bloss auf eine andere Ebene: Statt darüber zu diskutieren, welche Massnahmen geeignet und vertretbar sind, um die Pandemie einzudämmen, wird darüber diskutiert, welche Kennzahlen und Richtwerte denn massgeblich dafür seien, überhaupt etwas zu tun. Dabei entsteht der falsche Eindruck, es würde über Faktenaussagen gestritten, während es eigentlich um unterschiedliche Werturteile oder Partikularinteressen geht. In der Folge arbeiten sich die politischen Akteure an einer Kennzahl nach der anderen ab, ohne die normativen Unterschiede, die sich dahinter verstecken, jemals offen adressieren zu müssen. Ob 1, 10 oder 100 Corona-Tote pro Woche für eine Gesellschaft vertretbar sind, lässt sich empirisch-naturwissenschaftlich nicht beantworten, sondern ist in erster Linie eine Frage der ethischen Gewichtung dieser Todesfälle.
Waschen, spülen und wiederholen
Das Drehbuch der politischen Diskussionen über COVID-19-Kennzahlen ist so simpel wie repetitiv:
Politiker:innen erheben eine statistische Kennzahl (Infektionszahlen, Todesfälle, Krankenhausauslastung, R-Wert etc.) zum massgeblichen Kriterium für eine politische Massnahme, ohne überzeugend zu erklären, warum und in welcher Hinsicht diese Kennzahl massgeblich ist.
Bald nach der Veröffentlichung der Kennzahl beginnen aufmerksame Beobachter:innen und kritische Expert:innen deren Limitierungen aufzuzeigen.
Jene, die mit dem politischen Entscheid nicht zufrieden sind, greifen diese Limitierungen auf und beginnen auch politisch an der statistischen Kennzahl zu sägen: Sie versuchen aufzuzeigen, wie unzuverlässig, irrelevant oder irreführend sie doch eigentlich sei, um die getroffenen Massnahmen zu begründen.
Die statistische Kennzahl wird über den Haufen geworfen, angepasst oder ergänzt mit zusätzlichen Richtwerten. Das Spiel beginnt von vorne: Waschen, spülen und wiederholen.
Die jüngste Diskussionsrunde über die Verschärfung bzw. Lockerung der Corona-Massnahmen lieferte dafür ein wunderbares Anschauungsbeispiel. Zuletzt bestimmte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nämlich fünf Richtwerte, welche für die Lockerung bzw. die Verschärfung der Massnahmen herangezogen werden sollen. Nachvollziehbar begründet wurde das nicht, wie Nikolai Thelitz in der NZZ aufzeigte. Kein Wunder also, dass es auch von wissenschaftlicher Seite her Fragezeichen gab. So braucht es nicht zu erstaunen, dass die Richtwerte bald von politischen Kräften ins Visier genommen wurden. Der Branchenverband «Gastrosuisse» liess sogar ein Rechtsgutachten zu den Richtwerten in Auftrag geben und stellte dieses in den Mittelpunkt seines jüngsten Angriffs auf die Corona-Massnahmen des Bundes (Medienmitteilung).
Nach all dieser Kritik an den Richtwerten schien auch der Bundesrat selbst das Vertrauen in die Aussagekraft der BAG-Richtwerte verloren zu haben: «Vier von fünf Richtwerten für Öffnungsschritte sind derzeit nicht erfüllt», hiess es gleich zu Beginn der Medienmitteilung, in welcher er über die neusten Corona-Massnahmen informiert. Trotzdem wurde gelockert. Die Richtwerte seien «kein Ampelsystem», betonte Bundesrat Alain Berset an der Pressekonferenz. Zudem seien sie nicht starr, sondern müssten sich entsprechend der sich verändernden epidemiologischen Lage entwickeln können. Das ist richtig. Doch der Bundesrat scheint den eigenen Richtwerten selbst dann keine grosse Beachtung zu schenken, wenn sie auf die epidemiologische Lage angepasst sind. Es wirkt so, als seien sie in erster Linie als politische Versicherung gedacht: Wenn man sie zur Begründung eines Entscheids brauchen sollte, können sie herangezogen werden. Ansonsten kann man sich darauf verlassen, dass schon genügend Gründe aufgezeigt wurden, weshalb man es mit den Richtwerten doch nicht allzu streng sehen sollte.
Wie es weitergeht, kann man sich denken: Soeben hat der Bundesrat im Rahmen seines «Drei-Phasen-Modells» neue Richtwerte präsentiert und damit auch schon für erste Kritik gesorgt. Das politische Spiel mit den Corona-Kennzahlen kann also wieder von vorne beginnen.
Relevante Interessenverbindungen
Ich arbeite in der Gruppe für Angewandte Statistik an der Universität Zürich und bin Mitglied der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.