Grüninger

View Original

Tierversuche: Die Waage hat immer zwei Schalen

In der Diskussion um Tierversuche müssen auch die menschlichen Interessen abgewogen werden (Bild: Nora Gamper).

Ich durfte auf Radio SRF 1 eine Stunde lang über schwerbelastende Tierversuche, deren Nutzen und auch deren Grenzen diskutieren. Wer reinhören möchte, kann das hier tun. Es gab noch vieles, das ich anmerken, präzisieren und korrigieren wollte. Ein Punkt ist mir aber besonders wichtig, weshalb ich ihn nachträglich schriftlich festhalten möchte. 

Das Gespräch drehte sich weniger um konkrete Fälle, sondern um die Grundsatzfrage, ob (schwerbelastende) Tierversuche überhaupt zulässig seien oder nicht. Und grundsätzlich sind sie das nicht. Wenn wir lediglich die Belastungen für die Tiere als Entscheidungsgrundlage nehmen, dann wären viele Tierversuche inakzeptabel, weil unsere Rechtsordnung, aber auch unsere ethischen Normen das Verursachen von Tierleid ablehnen. Klare Sache also? Nur dann, wenn wir die andere Seite der Waage vergessen.

Die Anmassung der Gesunden gegenüber den Kranken

Auch beim heutigen Stand der Technik ist ein vollständiger Verzicht auf Tierversuche nur dann möglich, wenn wir bereit sind, auf viele wissenschaftliche Erkenntnisse und medizinische Fortschritte zu verzichten. Einige Gegner von Tierversuche sagen nun, dass sie dazu bereit seien – so auch ein Zuhörer und eine Zuhörerin, die während des Radiogesprächs zugeschaltet wurden. Sie begründeten ihre Ablehnung von Tierversuchen unter anderem damit, dass das Leben endlich sei und es damit nicht gerechtfertigt sei, Tiere in der Forschung einzusetzen, um dieses endliche Leben zu verlängern oder Krankheiten zu heilen.

Anrufer 1: «Was mich persönlich betrifft: Ich meine, jedes Leben hat irgendwann einmal ein Ende, und wenn ich dran komme, dann komme ich dran. Egal aus welchem Grund.»

Anruferin 3: «Wir sind alle nicht gemacht, um 120 zu werden. Also wenn man dann kein Medikament mehr hat, wenn man wirklich alt ist, dann ist das auch nicht so schlimm. Also ich finde, da sollte man der Natur weniger hineinpfuschen. »

Das Problem ist, dass ich diesen Verzicht zwar für mich selber wählen kann, ihn aber nicht einfach so meinen kranken Mitmenschen aufbürden darf. Nur weil ich bis jetzt Glück hatte und ein weitgehend beschwerdefreies Leben führen durfte, darf ich das Leiden meiner Mitmenschen nicht einfach ausblenden, sondern muss es bei der Güterabwägung genauso berücksichtigen wie das Leiden der Tiere. 

Wer es anmassend findet, wenn wir Menschen uns über die Bedürfnisse von Tieren hinwegsetzen, sollte es mindestens so anmassend finden, wenn sich gesunde Personen über die Bedürfnisse von kranken Menschen hinwegsetzen. Das macht das grundlegende Dilemma von Tierversuchen aus: Wir wollen weder Tier noch Mensch Leiden zufügen, brauchen aber Versuchstiere, um das Leiden von Menschen zu lindern. Ich habe dieses Dilemma in einem früheren Text auf «Vice» versucht möglichst deutlich zu verschriftlichen - inhaltliche Kritik ist sehr willkommen!

Post Scriptum

Als Nachtrag noch eine inhaltliche Korrektur meiner Aussagen in der Radiosendung: Die Protokolle und die Abstimmungsresultate der Kommission sind grundsätzlich öffentlich zugänglich (ich sagte: geheim), da der Kanton Zürich das Öffentlichkeitsprinzip lebt. Im Einzelfall muss jedoch bei der Anfrage entschieden werden, ob private Interessen dagegen stehen, das Resultat zu nennen. Aus den Protokollen ist aber nie ersichtlich, wer wie gestimmt hat – dieser Teil unterliegt dem Kommissionsgeheimnis.

Post Post Scriptum

Am Tag nach dem Radiogespräch gabe es im SRF 1 «Espresso» noch einen kurzen Nachtrag. Es ging um die Frage, wie das Bewilligungs- und Antragsverfahren aussieht, wenn wir ein neues lebensrettendes Antibiotikum entwickeln wollen. Meine Antwort: Genau gleich wie bei anderen Tierversuchen.