Ein Artikel, der am 15. Juli 2019 in der Jubiläumsausgabe des Laborjournals erschienen ist - den Original-Text gibt es hier zu lesen. Die vorliegende Version ist leicht redigiert.
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Die Geschichte geht so: Als Bill Clinton 1991 seine Kandidatur für das amerikanische Präsidentenamt lancierte, stieg er gegen einen der beliebtesten Präsidenten der US-Geschichte ins Rennen. Amtsinhaber George W. H. Bush hatte soeben den ersten Golfkrieg gewonnen und konnte Zustimmungsraten von fast neunzig Prozent vorweisen. Das Weisse Haus schien fest in seiner Hand – wie sollte Clinton da realistische Wahlchancen haben?
Sein Wahlkampfberater wusste die Antwort: „The economy, stupid!” Er identifizierte die schwächelnde Wirtschaftslage als einen von drei Schwerpunkten, auf die sich die Clinton-Kampagne konzentrieren sollte – und hatte Erfolg damit. Bush musste sich mit nur einer Amtszeit begnügen, Clinton zog ins Weisse Haus ein und der Wahlkampf-Slogan wurde zum geflügelten Wort.
Mit Wissenschaft hat das wenig zu tun. Doch wenn es um Tierversuchsdiskussionen geht, können Forschende durchaus daraus lernen. Forschende stehen dabei einer – scheinbar – erdrückenden Zahl von Menschen gegenüber, die Tierversuche ablehnen. Diesen Eindruck erhält, wer die mediale Berichterstattung und die Diskussionen darüber in den sozialen Netzwerken als Referenz nimmt. Die Wirklichkeit ist indes komplexer.
Repräsentative Umfragen aus der Schweiz zeigen nämlich, dass eine knappe Mehrheit der Befragten Tierversuche grundsätzlich akzeptiert. Natürlich schwanken die Zahlen je nach Absender und Formulierung der Fragen: Eine Umfrage, die vom Branchenverband der pharmazeutischen Industrie in Auftrag gegeben wurde, berichtet – etwas überraschend – geringere Zustimmungsraten als eine ähnliche Umfrage des Schweizerischen Tierschutzes. Wer nach der Zustimmung für schwer belastende Tierversuche fragt, bekommt klare Ablehnung als Antwort, wohingegen Versuche in der Medikamentenentwicklung auf breite Unterstützung zählen können.
Die Forschung im Visier der Politik
Komplex wird es auch, wenn wir die Arena der Politik betreten. Das gilt insbesondere in der Schweiz, wo dank der direkten Demokratie auch über sehr spezifische Themen wie Tierversuche national diskutiert und abgestimmt werden kann. Die Schweizer Bevölkerung hat dann auch schon mehrfach über ein Total- oder Teilverbot von Tierversuchen abgestimmt – jedes Mal mit Ausgang zugunsten der Forschung.
Umgekehrt haben Regierung und Parlament als Reaktion auf solche Initiativen das Tierschutzgesetz verschärft und die sogenannte «Würde der Kreatur» in der Verfassung verankert. Diese Massnahmen haben zu Einschränkungen der Forschungsfreiheit geführt, aber auch das Vertrauen in die Forschung gestärkt und Rechtssicherheit geschaffen.
Dennoch sind in der Schweiz zurzeit mehrere politische Vorstösse anhängig, welche Tierversuche einschränken oder sogar ganz abschaffen wollen. Einer davon will neben allen Tierversuchen auch gleich alle Forschung mit Menschen verbieten. Zurücklehnen können sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Schweiz also nicht.
Hoffnung macht, dass die Schweizer Bevölkerung die Komplexität des Themas durchaus anerkennt und zu einem grossen Teil einen differenzierten Umgang damit zeigt. Tierversuche werden nicht alle über einen Kamm geschert, sondern nach Belastungsstufe und Anwendungszweck beurteilt. Und die Ergebnisse des Schweizer Wissenschaftsbarometers zeigen, dass Herr und Frau Schweizer der Stimme der Forschung durchaus vertrauen.
Dennoch fürchten sich viele Forschende vor einer polarisierten Debatte und halten sich zurück, wenn es um öffentliche Stellungnahmen geht - zu gross ist bei vielen die Furcht, beschimpft, verbal bedroht oder sogar physisch attackiert zu werden.
Hinzu kommt, dass viele Forschende allzu oft alleine dastehen, wenn sie sich einmal exponiert haben. An vielen Schweizer Hochschulen war das Thema «Tierversuche» kommunikativ lange inexistent. Nur keine schlafenden Hunde wecken, hiess die Devise. In letzter Zeit hat der Wind zum Glück gedreht, und die relevanten Forschungseinrichtungen kümmern sich verstärkt um eine proaktive Kommunikation.
Die Defizite des «Defizitmodells»
Kommunikation ist aber nicht genug. Denn in der Diskussion um Tierversuche geht es vor allem um Vertrauen: Kann die Bevölkerung darauf vertrauen, dass Forschende ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erledigen, einen sorgsamen Umgang mit Tieren pflegen und deren Einsatz auf ein unerlässliches Mass beschränken? Ob diese Frage mit «Ja» oder «Nein» beantwortet wird, entscheidet auch über den Ausgang der kommenden Abstimmungen.
Viele Forschende glauben aber fälschlicherweise, dass die Vermittlung von Wissen eine Voraussetzung für das Schaffen von Vertrauen ist. Doch wissenschaftliche Kenntnisse sind dazu weder notwendig noch hinreichend. Wären sie notwendig, könnte man sich die Mühe schon aus rein praktischen Gründen sparen. Es ist schlicht unmöglich, alle Menschen ein Biologie- oder Medizin-Studium durchlaufen zu lassen, nur damit sie den Erkenntnissen der Biomedizin vertrauen. Ebenso wenig sind wissenschaftliche Kenntnisse hinreichend für die Vertrauensbildung. Nicht wenige Menschen, die Kritik an Tierversuchen üben, können es fachlich gesehen mit Biologinnen oder Veterinären aufnehmen – wenn sie nicht sogar selber welche sind.
Trotzdem ist das sogenannte «Defizitmodell der Wissenschaftskommunikation» immer noch fest in den Köpfen vieler Forschender verankert. Dieses besagt, vereinfacht gesagt, dass mangelnde Akzeptanz von wissenschaftlichen Ergebnissen und fehlendes Vertrauen in die Wissenschaften in erster Linie auf ein Defizit an Wissen zurückzuführen sei. Wenn die Menschen Tierversuche nur besser verstünden, dann würden sie diese auch befürworten, so die irrige Überlegung.
Selbstverständlich machen falsche Vorstellungen über die Realität in biomedizinischen Laboratorien vielen Forschenden das Leben schwer: Bilder können lügen, und Zahlen sprechen eben nie für sich selber. Laboratorien und Forschungseinrichtungen, die mit Tieren arbeiten, sollten deshalb offen und transparent über ihre Arbeit berichten - und zwar so, dass sich die falschen Vorstellungen nicht noch mehr in den Köpfen verfestigen. Sie sollten sich auch nicht davor scheuen, ihre Einrichtungen der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Forschung mit Tieren kommt in den Köpfen der Menschen hingegen schlechter weg, als sie in Tat und Wahrheit ist. In diesem Sinne sind Aufklärungskampagnen wie «Tierversuche verstehen» der deutschen Forschungsorganisationen sehr zu begrüssen.
Die Kraft der Werte
Ebenso gilt es aber, jene Wertehaltungen zu verstehen, die Menschen dazu bringen, Tierversuche zu akzeptieren oder eben abzulehnen. Ob wir Tierversuche zu Forschungszwecken einsetzen sollen, ist keine biologische oder medizinische Frage, sondern eine philosophische, insbesondere eine ethische. Um sie zu beantworten braucht es freilich empirisches biomedizinisches Wissen. Doch wir müssen nicht primär darüber diskutieren, was ist, sondern was sein soll.
Es sollte deshalb nicht so getan werden, als liessen sich aus biomedizinischen Erkenntnissen allein normative Schlüsse ziehen. Die Biomedizin kann uns sagen, welche Erkenntnisse sich mit der Forschung an Tieren gewinnen und welche Therapien sich daraus entwickeln lassen. Sie liefert jedoch keine Antwort darauf, ob wir Tiere deswegen zu Forschungszwecken verwenden sollen.
Wenn wir wollten, könnten wir per sofort auf Tierversuche verzichten. Es gibt keine physikalischen oder biologischen Gesetze, die uns davon abhielten. Die Frage ist lediglich, ob wir bereit sind, die damit einhergehenden medizinischen, ökonomischen und sozialen Kosten zu tragen und ob wir den Verlust an zukünftigem Wissen akzeptieren wollen. Neben Faktentreue braucht es also vor allem solide philosophische Argumente, um in dieser Diskussion bestehen zu können. Kurz: It‘s the philosophy, stupid!
Vor diesem Hintergrund sind Aktionen wie «Freiheit ist unser System» zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit ausdrücklich zu loben. Die Kampagne setzt nicht wie so oft bei einer reinen Kosten-Nutzen-Rechnung an, um die Wissenschaften zu verteidigen, sondern erinnert mit viel Selbstbewusstsein an einen grundlegenden und auch rechtlich garantierten Wert unserer Demokratie: Die Freiheit, zu forschen. Damit wird klargestellt, dass sich die Daseinsberechtigung der Wissenschaft nicht aus ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft ergibt, sondern ein gesetzlich verbrieftes Recht ist. Es sollen sich nicht jene rechtfertigen müssen, welche dieses Recht in Anspruch nehmen, sondern jene, welche es einschränken wollen. Auch im Hinblick auf die Diskussion über Tierversuche ist das eine entscheidende Erweiterung der Perspektive.
Nun sind die körperliche und geistige Unversehrtheit von Menschen wie auch der Schutz von Tieren sehr gute Rechtfertigungen, um die Freiheit der Wissenschaften einzuschränken. Gerade die Biomedizin hat in der Vergangenheit zu viele moralisch verwerfliche Experimente an Mensch und Tier zugelassen, als dass sie eine reine Weste für sich beanspruchen dürfte. Und in der Schweiz geniesst neben der Würde des Menschen wie bereits erwähnt auch die Würde des Tieres Verfassungsrang – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Gesetzgebung und Rechtsprechung.
Dennoch ist es entscheidend, die Diskussion über Tierversuche nicht ausschliesslich mit Fokus auf das Tierwohl zu führen. Wer fordert, dass Tierversuche ersatzlos abzuschaffen seien, beschränkt damit immer auch die Freiheit der Forschung und gefährdet die Würde des Menschen, wenn die Entwicklung lebenswichtiger Medikamente und Therapien ausbleibt. Der gerne bemühte Allgemeinplatz «irgendwann müssten alle einmal sterben» ist hier nichts anderes als die Anmassung der Gesunden gegenüber den Kranken.
Es liegt deshalb an den Forschenden, auch für solche und insbesonder für die Werte der Wissenschaften einzustehen, wenn Sie an der öffentlichen Debatte teilnehmen. Das geht oft vergessen, weil viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler irrigerweise annehmen, dass die Werte der Wissenschaft das Mass aller Dinge für alle seien. Dabei müssen diese Werte immer wieder aufs Neue artikuliert und mit guten Argumenten verteidigt werden. Doch wie lässt sich das tun, ohne Vertrauen zu verspielen?
In der sozialwissenschaftlichen Forschung gibt es ein Modell für Vertrauenswürdigkeit, das drei Voraussetzungen dafür nennt, dass Forschende als vertrauenswürdig wahrgenommen werden: Sie müssen ihre Expertise demonstrieren, die eigene Integrität unter Beweis stellen und sich wohlwollend verhalten. Die folgenden Punkte können dabei helfen.
1. Interessenbindungen und Wertehaltungen offenlegen
Wer in den politischen Ring steigt – und das tun Forschende, die über Tierversuche diskutieren, zwangsläufig – sollte seine ideellen und materiellen Interessenbindungen, aber auch seine Wertehaltungen offenlegen. Bei der wissenschaftlichen Ideenschmiede Reatch, die sich auch mit Tierversuchen befasst, publizieren wir deshalb sämtliche ideellen und finanziellen Interessenbindungen wie auch die individuellen Wertehaltungen des Vorstands. Dasselbe tue ich in ausführlicherer Form auf meiner eigenen Webseite.
Diese Transparenzmassnahmen helfen dabei, sich der eigenen Wertehaltungen bewusst zu werden und mögliche Einflüsse darauf zu erkennen. So lässt sich auch eine kritische Distanz zu den eigenen Positionen entwickeln – eine entscheidende Voraussetzung für jede sachliche Diskussion.
2. Der Wirklichkeit in die Augen schauen
Eine (überzeichnete) Debatte über Tierversuche verläuft wie folgt: Die Gegner betonen das Leid der Tiere und die Unzuverlässigkeit des Modells – die Befürworter betonen den medizinischen Nutzen und die Unabdingbarkeit der Versuche für die Forschung. Den wirklich unangenehmen Fragen weichen damit beide Seiten aus.
Viele Tiere spüren Schmerzen – daran gibt es wissenschaftlich nichts zu rütteln. Ebenfalls zutreffend ist, dass in der Tierversuchsforschung (wie auch anderswo in der Forschung) Studien von geringer Qualität und mangelnder Aussagekraft produziert werden. Forschende sollten diese Punkte – in kontextualisierter Form – anerkennen und umgekehrt auf die Anerkennung der Tatsache pochen, dass Tierversuche einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis grundlegender wissenschaftlicher Zusammenhänge wie auch zur Entwicklung neuer Therapien für Mensch (und Tier) liefern.
Die Anerkennung solcher Tatsachen macht den Weg frei für die Diskussion der relevanten Fragen. Diese könnten beispielsweise lauten: «Sind wir bereit, menschliches Leid in Kauf zu nehmen, um Tiere vor Versuchen zu bewahren?» Oder auch: «Gibt es wissenschaftliche Fragen, die keinen Tierversuch rechtfertigen?» Und wenn nein: «Was macht wissenschaftliche Erkenntnisse bedeutender als das Leben von Tieren?»
Solche Fragen sind anstrengend. Aber wer überzeugende Antworten darauf liefert, besitzt damit einen entscheidenden argumentativen Vorteil.
3. Differenzen identifizieren und Gemeinsamkeiten aufzeigen
Wer in seinem Gegenüber nur den Feind sieht, zieht sich oft auch argumentativ in den Schützengraben zurück und läuft damit Gefahr, argumentativ überrollt zu werden.
Zielführender für die Debatte wäre es, die tatsächlichen Unterschiede in der Argumentation herauszuschälen und daneben auch die vorhandenen Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. So wollen in der Regel sowohl Gegner wie auch Befürworter von Tierversuchen Leiden vermindern. Sich das zu vergegenwärtigen, kann dabei helfen, bei der Aushandlung der vorhandenen Differenzen (beispielsweise der Wahl der Mittel, um Leiden zu verhindern, oder der Gewichtung dieses Leidens) die Perspektiven zu wahren.
4. Zeigen, wie es besser geht – oder warum es nicht besser gehen kann
Viele Forschende erklären, dass sie auf Tierversuche verzichten würden, wenn dies momentan möglich wäre. Wer es ernst meint mit dieser Aussage, sollte auch aufzeigen, welches die Bedingungen für einen Verzicht wären und warum diese Bedingungen (noch) nicht erfüllbar sind. Auch hier geht es darum, die eigenen normativen Annahmen und Haltungen klar zu benennen und zu demonstrieren, dass man nicht nur leere Phrasen drischt, sondern integer und wohlwollend handelt.
Expertinnen und Experten sind in öffentlichen Debatten in der Bringschuld. Der pauschale Verweis auf die eigene wissenschaftliche Autorität ist bedeutungslos, wenn man diese nicht mit den entsprechenden Argumenten und konkreten Lösungsvorschlägen unter Beweis stellt.
5. Embrace the Haters
Kritik und Widerspruch sind anstrengend, aber gewinnbringend. Sollte sich die Kritik als berechtigt herausstellen, legt sie auch die Lücken in der eigenen Argumentation offen und ermöglicht es, diese zu schliessen. Ist der Widerspruch unberechtigt, lässt er sich leicht widerlegen und man gewinnt Vertrauen in die eigenen Argumente.
Zudem erlaubt Kritik in beiden Fällen Rückschlüsse über die Beweggründe und Anliegen des Kritikers. Wer diese kennt, kann sie zur Strukturierung und Vorbereitung der eigenen Argumente nutzen und erhält damit ein nützliches Werkzeug, um in einer Debatte die Übersicht zu behalten.
6. Grenzen ziehen
Mit solchen Massnahmen lassen sich freilich nicht alle dazu bringen, den Wissenschaften zu vertrauen – gerade wenn es um umstrittene Themen wie Tierversuche geht. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Entscheidend ist, dass die Wissenschaften das öffentliche Ringen um das bessere Argument nicht einfach ignorieren, sondern selbstbewusst daran teilnehmen, damit die Werte der Wissenschaft Gehör finden.
In jedem Fall gilt aber: Wenn eine Debatte persönlich und beleidigend wird oder eine politische Position mit quasi-totalitärem Alleingültigkeitsanspruch vertreten wird, dann hat das mit dem Ringen um das beste Argument nichts mehr zu tun. Solche Grenzüberschreitungen sollte man explizit benennen und die Diskussion danach freundlich, aber bestimmt für beendet erklären, um sich wieder Wichtigerem zuzuwenden – zum Beispiel der eigenen Forschung.
Relevante Interessenbindungen
Ich arbeite als Biostatistiker am Institut für Mathematik der Universität Zürich und forsche zur Reproduzierbarkeit von Tierversuchen. Ich bin Mitglied der Tierversuchskommission des Kantons Zürich. Ich bin Vorstandsmitglied von «Reatch! Research. Think. Change.» und von «Animal Research Tomorrow» (vormals: «Basel Declaration Society»). Ich bin Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Versuchstierkunde.