Ein Gastkommentar aus der NZZ am Sonntag. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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«Wissenschafter mussten sich im vergangenen Jahr viel anhören. Sie sollen weniger dozieren, sich mehr einmischen oder es genauso machen wie bisher – einfach viel besser. In einer Zeit, in der Antiintellektualismus und selektive Faktenfeindlichkeit an der politischen Tagesordnung sind, scheinen wissenschaftliches Denken, Faktentreue und Differenziertheit gefragter denn je.
Doch die Forderung nach mehr wissenschaftlicher Intervention in der Öffentlichkeit ist zweischneidig – besonders für Wissenschafter selbst. Auf der einen Seite wird von ihnen verlangt, dass sie sich gesellschaftlich engagieren und sofort ihre Stimme erheben, wenn Fakten missbraucht werden. Auf der anderen Seite sollen sie sich nicht instrumentalisieren lassen und sich bei politischen Auseinandersetzungen strikt neutral verhalten.
Das stellt Forscherinnen und Forscher vor ein grundsätzliches Dilemma: Wer in Auftreten und Handeln rein wissenschaftlich bleibt, wird ausserhalb des akademischen Betriebs kaum beachtet, denn wissenschaftliches Schreiben und Reden ist – aus guten Gründen – nicht massentauglich. Manchmal müssen wissenschaftliche Argumente also zugespitzt werden, um die Menschen dazu zu bringen, einem überhaupt zuzuhören.
Das macht angreifbar. Wer sich als Wissenschafter pointiert äussert, scheint in den Augen der kritischen Öffentlichkeit schnell einmal im Gefechtsmodus zu sein und muss sich des Vorwurfs erwehren, politische Ideologie über wissenschaftliche Redlichkeit zu stellen. Allerdings sind gewisse wissenschaftliche Fragen derart politisiert, dass jedes noch so harmlose Forschungsergebnis zu einem Politikum wird. Forscherinnen und Forscher, die beispielsweise über die Wirkung des Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat reden oder über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, müssen oft erfahren, dass ihre Aussagen in der Debatte ein Eigenleben entwickeln, sie aus dem Zusammenhang gerissen, verfälscht, missbraucht oder gar gegen ihre Urheber verwendet werden.
Widerstand droht einem gesellschaftlich engagierten Wissenschafter aber auch aus den eigenen Reihen. Wer sich nicht nur akademisch, sondern auch öffentlich zu Wort meldet, wird bei seinen Forschungskolleginnen und -kollegen nicht unbedingt auf Wohlwollen stossen. Gastbeiträge in Zeitungen, Diskussionen auf Internetplattformen oder die Mitarbeit an politischen Lösungen bringen dem wissenschaftlichen Ansehen im besten Fall wenig. Im schlimmsten Fall sind sie karriereschädigend.
Eine solche Atmosphäre trägt wenig dazu bei, gesellschaftliches Engagement zu fördern - gerade bei Wissenschaftern, die noch ganz am Anfang ihrer Forschungstätigkeit stehen. Dabei brauchte es ihre Stimme doch am dringendsten. Sie sind es nämlich, die das Bild, die Inhalte und das Auftreten der Wissenschaften in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bestimmen werden. Doch wer befürchten muss, mit seinem gesellschaftlichen Engagement die eigene wissenschaftliche Arbeit zu torpedieren, überlegt es sich zweimal, ob er sich in der Öffentlichkeit äussern soll.
Ein Rückzug von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus der öffentlichen Debatte wäre jedoch fatal. Ein Blick auf die globalen Entwicklungen im Allgemeinen und auf die USA im Besonderen zeigt, was wir davon haben, wenn Wissenschaft und Politik gegeneinander statt miteinander arbeiten: im besten Fall nichts, sonst Trump.
Selbstverständlich darf umgekehrt die Qualität eines Forschenden nicht an seiner gesellschaftlichen Strahlkraft gemessen werden. Heute wie in Zukunft brauchen Universitäten in erster Linie solide Wissenschafter und nicht wortgewandte Rhetoriker oder politische Aktivisten. Doch es ist störend, wenn wissenschaftliche Einmischung in die Gesellschaft stets gefordert, aber kaum gefördert wird. Universitäten, Forschungsinstitute und Geldgeber sollten das gesellschaftliche Engagement ihrer Forschenden deshalb nicht nur dulden, sondern aktiv unterstützen. Dazu braucht es nicht nur spezialisierte Doktorandenprogramme und Kommunikationstrainings, sondern auch einen Kulturwandel. Akademiker, die sich sowohl als Wissenschafter wie auch als Staatsbürger verstehen, sollten für diese Haltung nicht bestraft werden.
Die öffentliche Debatte über Wissenschaft verlangt mehr als Dokumentarsendungen im Fernsehen und Communiqués von Universitäten. Sie verlangt einen Austausch auf Augenhöhe zwischen den Wissenschaften, der Politik und anderen Teilen der Gesellschaft. Das offene Ohr der Politik ist dafür genauso unabdingbar wie der Rückhalt in der Akademie. Sonst bleiben alle Forderungen nach mehr gesellschaftlichem Engagement der Wissenschaften blosse Lippenbekenntnisse.»