Ein Kommentar aus der NZZ. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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In Genf unterhalten die Universität Genf, das Cern und die Uno seit 2012 gemeinsam das Citizen Cyberlab. Die in Bern angesiedelte Stiftung Science et Cité fördert mit «Schweiz forscht» eine Plattform, welche unterschiedlichste Forschungsprojekte mit Bürgerbeteiligung vorstellt. Und in Zürich soll bald ein eigenes Kompetenzzentrum für Citizen-Science entstehen, dank einer Partnerschaft von Universität und ETH Zürich.
Was hat es mit dieser «Verbürgerlichung» der Wissenschaften auf sich? Citizen-Science oder «Bürgerwissenschaft» ist der Versuch, Menschen von ausserhalb der akademischen Welt an Forschung heranzuführen und daran aktiv teilhaben zu lassen. Laienforschende helfen, Galaxien zu klassifizieren, Dialektwörter zu sammeln oder Wildtiere in der Stadt zu beobachten.
Schnelles Internet, leistungsfähige Computer und Smartphones, die allgegenwärtig sind, machen es einfach, auch wissenschaftliche Laien für Datenerhebungen einzusetzen. Und ohne deren Hilfe wären viele wissenschaftliche Projekte gar nicht möglich.
Auch Laien sind Experten
Wissenschaftliche Forschung krankt manchmal daran, dass sie ausschliesslich von Akademikerinnen und Akademikern erdacht, durchgeführt und beurteilt wird. Besonders in den Sozial- und Geisteswissenschaften kann dies die Aussagekraft der Forschungsergebnisse schmälern. Aber auch andere Disziplinen können von mehr Bürgerbeteiligung profitieren: Zum Beispiel wäre allen gedient, wenn neben Ärzten und Biologen auch Patienten und Pflegefachpersonen stärker in biomedizinische Forschungsprozesse eingebunden würden. Citizen-Science könnte dabei helfen, Forschung methodisch und inhaltlich vielfältiger und umfassender zu machen.
Doch an diesem Punkt ist Citizen-Science noch nicht. Bürgerwissenschafter sind oft nicht mehr als Gratis-Arbeitskräfte, die akademische Knochenarbeit übernehmen. Was haben sie davon? Eine Untersuchung von Science et Cité zeigt zwar, dass viele Citizen-Scientists grundsätzlich gerne ehrenamtliche Arbeit für die Wissenschaften verrichten. Doch wenn sich die Bürgerwissenschaft darin erschöpft, Menschen zu billigen Datenlieferanten zu machen, liegt ihr wahres Potenzial brach.
Bürgerwissenschaft muss darum breiter gedacht werden – nämlich als Ergänzung und Erweiterung wissenschaftlicher Tätigkeiten mit Expertenwissen aus verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft. Alle Bürgerinnen und Bürger sind auf ihre Weise Experten: Der Bauer ist der Profi für Pflanzenbau und Viehzucht, der Krankenpfleger für die Betreuung von Patienten und die Patientin für ihre eigene Krankheit. Es wäre töricht, dieses Wissen zu ignorieren, nur weil die entsprechenden Personen keinen Doktorabschluss besitzen.
So gesehen ist Citizen-Science ein unpassender Begriff. Denn er unterteilt unsere Gesellschaft in nichtwissenschaftliche Bürger auf der einen und nichtbürgerliche Wissenschafter auf der anderen Seite. Damit vermittelt er das Gegenteil dessen, was die Bürgerwissenschaft eigentlich erreichen möchte: die Symbiose von akademischer und nichtakademischer Expertise und zugleich die Überwindung des Elfenbeinturms in unseren Köpfen.
Milizsystem für die Forschung
Citizen-Science sollte darin bestehen, dass Forschende der Universitäten gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft wissenschaftliche Fragen beantworten und neue Projekte anstossen.
Als weltweit führender Wissenschaftsstandort mit einer hohen Dichte an Spitzenuniversitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen würde die Schweiz beste Voraussetzungen dafür bieten. Hinzu kommen Initiativen von wirtschaftlichen Schwergewichten wie Nestlé, Novartis oder Google sowie ein grosser Rückhalt für Wissenschaft und Innovation in Politik und Bevölkerung.
Unser Land hat überdies einen weiteren Trumpf vorzuweisen: Die Schweiz besitzt eine über hundertjährige Tradition des zivilgesellschaftlichen Engagements. Ehrenamtliche Arbeit und Milizprinzip durchziehen alle Aspekte unseres Staatswesens. Ob in der Rechtssetzung, der Landesverteidigung oder der Feuerwehr – überall begegnen wir Menschen, die sich zivil engagieren. Kurzum: Der Nährboden für das ambitionierte Projekt Citizen-Science könnte nicht besser sein.
Und die aktive Mitarbeit von Freiwilligen ist für die Schweizer Wissenschaft nichts Neues. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielten Naturliebhaber und Amateurforscher eine entscheidende Rolle bei botanischen und zoologischen Untersuchungen. Auch die 1815 gegründete Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (heute: Akademie der Naturwissenschaften Schweiz) und die 1907 gegründete Gesellschaft für Ur- und Frühgeschichte (heute: Archäologie Schweiz) wurden massgeblich von Laienforschenden geprägt.
Natürlich ist es eine Herausforderung, mit wissenschaftlichen Laien seriöse Forschung zu betreiben. Aber wenn wir es Milizparlamentariern zutrauen können, zusammen mit den Profis von der Verwaltung neue Gesetze zu erlassen, sollten wir auch Milizforschende gemeinsam mit Profs der Universitäten neues Wissen schaffen lassen. Gelingt das, kann die Schweiz zu einer führenden Citizen-Science-Nation werden. Vor allem wäre damit Bürgerwissenschaft möglich, die ihrer eigenen Vision gerecht würde.