Dieser Text wurde am 28. April 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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Bei vielen Forschenden kommen die jüngsten Lockerungsschritte des Bundesrats gar nicht gut an. Einer von ihnen ist der Neurowissenschafter Dominique de Quervain, der bis vor kurzem der Covid-19-Task-Force des Bundesrates angehörte. Er halte «die vom Bundesrat beschlossenen Lockerungsschritte für einen Fehler», schrieb er nach Bekanntwerden der Beschlüsse auf Twitter. Man werde «schon bald einen umso höheren Preis dafür bezahlen müssen», fügte er hinzu.
Zwei Tage später dann der Knall: De Quervain kündigt an, die Task-Force zu verlassen. «Das [der Task-Force] auferlegte politische Korsett verhindert die dringend notwendige, ungefilterte wissenschaftliche Aufklärung», schreibt er dazu auf Twitter. Und weiter: «In Zukunft» werde er seine Expertise «unabhängig» der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
Das ist bemerkenswert. Im Umkehrschluss bedeutet es nämlich, dass de Quervain seine Expertise bisher nicht unabhängig zur Verfügung gestellt hat, womit er auch Zweifel schürt an der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Task-Force-Kolleginnen und -Kollegen. Weil er zudem offenlässt, wer für das von ihm wahrgenommene politische Korsett verantwortlich sein soll, lastet der Rechtfertigungsdruck umso stärker auf den verbleibenden Mitgliedern des Gremiums. Stimmt seine Einschätzung, so verhindern diese mit ihrem Verbleib das unabhängige Bereitstellen ihrer Expertise zuhanden der Öffentlichkeit. Rhetorisch werden sie damit mitverantwortlich gemacht für die in de Quervains Augen fehlende «ungefilterte wissenschaftliche Aufklärung».
«Politisches Korsett»? Oder «Zensur»?
Auf Twitter macht sein Rücktritts-Tweet schnell und weit die Runde. Mehrere hundert Retweets und mehrere tausend «Herzchen» gibt es dafür. Neben Bedauern und Verständnis wurde auch viel Lob für die Arbeit der Task-Force geäussert. Doch wie Twitter so ist, wird schnell zugespitzt: Aus dem «politischen Korsett» wird «Zensur», andere wähnen «Unis am politischen Gängelband», sehen in der Task-Force bloss «ein wissenschaftliches Feigenblatt» und wünschen sich deshalb einen «geschlossenen Rücktritt» des Gremiums. Auch die «rückgratlosen Wissenschafter, die immer noch Teil dieser Maulkorb-Aktion des Bundesrates sind», bekommen von Twitter-Kämpen ihr Fett ab. Die berühmt-berüchtigten «Wutbürger» – sie tummeln sich auch unter den Verteidigern der Wissenschaften.
Immer wieder wird auch die Forderung nach «unabhängiger» Kommunikation aufgegriffen. Viele scheinen de Quervains These zuzustimmen und die Hauptursache des durchzogenen Pandemie-Managements der Schweiz in einem Mangel an «ungefilterter wissenschaftlicher Aufklärung» zu sehen. Dieser Wunsch speist sich nicht selten aus einer Vorstellung, die gerade in wissenschaftlichen und wissenschaftsaffinen Kreisen beliebt ist: Wenn Politiker und Politikerinnen wissenschaftliche Einschätzungen in den Wind schlügen, sei das auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Es brauche bloss mehr «Aufklärung», und schon würden alle involvierten Akteure ihre Denkfehler erkennen und auf den «richtigen» Weg einschwenken.
Doch diese Vorstellung ist so naiv wie gefährlich. Sie ist naiv, weil darin Werturteile, die nicht den eigenen entsprechen, keinen Platz haben. Letztlich impliziert dieses «Defizitmodell» der Wissenschaftskommunikation nichts anderes, als dass wir alle zum genau gleichen normativen Schluss kämen, wenn wir nur alle die genau gleichen wissenschaftlichen Fakten kennen würden. Anscheinend will es vielen nach über einem Jahr anhaltender Debatten über Covid-19 immer noch nicht in den Kopf, dass Widerstand gegen Corona-Massnahmen weder mit Dummheit noch mit Sturheit noch mit Todessehnsucht erklärt werden muss, sondern dass gewisse Menschen tatsächlich und im vollen Bewusstsein um die sozialen und gesundheitlichen Schäden der Überzeugung sind, die Massnahmen müssten gelockert werden.
Wissenschaft, die politisch lobbyiert, ist keine Wissenschaft mehr
Dass bessere wissenschaftliche Kenntnisse nicht automatisch dazu führen, die politische Haltung von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zu teilen, zeigen auch andere Debatten – zum Beispiel jene über Tierversuche: Gesteigertes biologisches Wissen über die Schmerzfähigkeit von Tieren ist ein wesentliches Element in der Argumentation von Tierschutzorganisationen für die Abschaffung von Tierversuchen. Mithilfe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse positionieren sie sich damit gegen die Mehrheit der Forschenden, die Tierversuche durchführen und mit abweichenden normativen Begründungen rechtfertigen.
Ähnlich verhält es sich bei Fragen wie der Verwendung der grünen Gentechnik in der Landwirtschaft, dem Einsatz der Kernkraft zur Stromerzeugung oder dem Gebrauch von Gesichtserkennungssoftware bei der Polizeiarbeit. Sowohl Gegner wie Befürworter von Gentechnik, Kernkraft oder Gesichtserkennungssoftware können sich wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen, um ihre politische Haltung plausibel zu machen. Und weil «wissenschaftlich» dabei oft implizit und dogmatisch als «moralisch richtig» gesetzt wird, entsteht die Illusion, dass ein Verweis auf «die» Wissenschaft ausreiche, um politische Massnahmen zu begründen. In der Folge verschiebt sich die Debatte weg von dem Streit um unterschiedliche Werte oder dem Aushandeln von Partikularinteressen hin zu unproduktiven Faktenschlachten auf dem Buckel der Wissenschaften.
Deshalb ist das Defizitmodell auch gefährlich für Wissenschafterinnen und Wissenschafter: Weil es von der falschen Annahme lebt, dass die eigenen Werturteile von allen anderen geteilt werden (müssen), schliesst es gerade die Möglichkeit aus, dass politische Entscheide im vollen Wissen um die wahrscheinlichen Konsequenzen getroffen werden. Politikerinnen und Politiker nehmen diese Kurzsichtigkeit immer wieder dankend an, denn sie erlaubt es ihnen, sich um überzeugende Argumente zu drücken, mit denen sie ihre Politik legitimieren müssten. Eine Folge davon ist, dass sich politische Diskussionen über Covid-19 in unproduktiven Stellvertreterdebatten über Richtwerte und Restaurantterrassen verlieren, statt die normativen Unterschiede der verschiedenen politischen Akteure offen zu adressieren und zu verhandeln. Dabei wäre Letzteres eigentlich eine zentrale Aufgabe von Politik.
Stellvertreterdebatten
Im Idealfall ist demokratische Politik eben kein unproduktives Blabla, wie das manche Forschende reichlich despektierlich behaupten, sondern erfüllt eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe: Sie ermöglicht es, Perspektiven aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft zusammenzubringen und zu verhandeln, ohne dass diese Teilperspektiven deswegen aufgegeben werden müssten. In diesem Geiste hat sich auch das sogenannte «Franxini-Projekt» konstituiert, durch das nicht nur wissenschaftliche Perspektiven in die Politik eingebracht werden sollen, sondern das Wissenschafter und Wissenschafterinnen auch andere gesellschaftliche Sichtweisen näherbringen und ihr Verständnis für Politik verbessern soll. Forschende sollen dabei lernen, ihr eigenes politisches Handeln als solches zu erkennen und selbstkritisch zu reflektieren – auch zum Selbstschutz. Tun sie das nämlich nicht, werden sie weiterhin in Stellvertreterdebatten hineingezogen, während sie sich im Glauben wähnen, bloss «Fakten» zu liefern.
Dieses Nicht(an)erkennen der normativen Dimension der eigenen Aussagen führt dann argumentativ aufs Glatteis – mit der Folge, dass jene, denen wissenschaftliche Bedenken ein Dorn im Auge sind, diese umso einfacher in den Wind schlagen können. Das tun sie zum Beispiel, indem sie Kritik an politischen Massnahmen rhetorisch umdeuten zu einer anmassenden und technokratisch motivierten Einmischung in einen demokratisch legitimierten Prozess – die «Maulkorb»-Polemik lässt grüssen.
Bei der Covid-19-Task-Force kommt erschwerend hinzu, dass einige in der Bevölkerung sie nicht nur als Beratungsorgan des Bundesrates und als Informationsquelle für die Öffentlichkeit betrachten, sondern auch als unabhängigen «Gegenpol» zu politischen Parteien und Lobbyorganisationen sehen. Damit erhält die Task-Force selbst eine Art Lobbyauftrag gegenüber der Politik – stellt sich nur die Frage: wofür und für wen? Im Gegensatz zu einer politischen Partei oder einem Branchenverband hat die Task-Force weder einen ideologischen Rahmen, an dem sie sich orientieren könnte, noch konkrete Anspruchsgruppen, die sie vertreten müsste.
It’s not a bug, it’s a feature!
Jene, die von Forschenden gleichzeitig wissenschaftliche Unabhängigkeit und politischen Einfluss fordern, verlangen deshalb zu viel. Wissenschaft kann nicht politisch lobbyieren, ohne aufzuhören, Wissenschaft zu sein – zumindest nicht, wenn man das Ideal der Werturteilsfreiheit hochhält. Wirksame wissenschaftliche Beratung braucht deshalb einen relativ klar abgesteckten normativen Rahmen. Wie dieser Rahmen auszusehen hat, lässt sich jedoch nicht empirisch-wissenschaftlich bestimmen, sondern muss von ausserhalb der Wissenschaften kommen.
Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben in dieser Pandemie eine enorme diskursive Macht erlangt. Die Umsetzung dieser Form von Macht in wirksame politische Lösungen ist hingegen oft gescheitert, wie die eher durchzogene Bilanz der Schweiz im Pandemie-Management zeigt. Das mag erklärwaen, warum sich einige Forschende weiterhin als Davids inszenieren, obwohl sie in vielerlei Hinsicht längst Goliaths sind: Die empfundene politische Machtlosigkeit lässt sie übersehen, wie dominant wissenschaftliche Perspektiven in der Diskussion um die Pandemie tatsächlich sind.
«It’s not a bug, it’s a feature!», möchte man den frustrierten Forschenden an dieser Stelle zurufen. Mit diesem teils ironisch, teils ernst gemeinten Spruch wird in den Computerwissenschaften das Phänomen beschrieben, dass gewisse als störend empfundene Eigenschaften eben keine Fehler («bugs») sind, sondern eine zweckmässige Funktion («feature») erfüllen. So ist es auch beim Ideal der Werturteilsfreiheit der Wissenschaften: Aus empirischen Erkenntnissen allein lassen sich zwar keine politischen Massnahmen ableiten, doch das befreit Wissenschafterinnen und Wissenschafter auch vom Druck, politisch gefallen zu müssen.
Nicht noch mehr Information, bitte!
Es sollte denn auch als Notlösung gesehen werden, dass Wissenschafter selber tätig werden müssen, um an die Politik zu gelangen – denn die Popularisierung und politische Vermarktung von wissenschaftlichen Erkenntnissen gehört eigentlich nicht zu ihren Aufgaben. Idealerweise sollten Politikerinnen und Politiker wissenschaftsfreundlich genug sein, um bei ihren Entscheidungen regelmässig einen wissenschaftlichen Realitäts-Check einzubauen und zu schauen, ob sich gewisse Massnahmen mit wissenschaftlicher und technologischer Unterstützung effizienter umsetzen lassen.
In dieser Pandemie war das aber nur bedingt der Fall. Politische Entscheidungsträger haben sich ganz offensichtlich schwergetan damit, die überwältigende Menge an wissenschaftlichen Informationen politisch produktiv zu nutzen. Hinzu kommt, dass sie es nicht geschafft haben, eine überzeugende Argumentation zu entwickeln, um Abweichungen von wissenschaftlichen Empfehlungen normativ zu begründen und zu verteidigen. Pauschale Verweise auf irgendwelche «andere Kriterien», wie sie an bundesrätlichen Pressekonferenzen gängig sind, reichen dafür nicht aus.
Dass gewisse Forschende darauf aber mit noch mehr wissenschaftlicher Informationsvermittlung reagieren wollen, wirkt geradezu verrückt. Denn die Polemik um die jüngsten Öffnungsschritte des Bundesrates zeigt anhand eines entscheidenden Details auf, dass «ungefilterte wissenschaftliche Aufklärung» wohl kaum etwas an den Entscheiden des Bundesrates geändert hätte. Wie sich herausstellte, wurde die Task-Force vor den jüngsten Öffnungsschritten nicht um eine Einschätzung gebeten.
Offensichtlich fand der Bundesrat, dass er keine zusätzlichen wissenschaftlichen Informationen brauche, um entscheiden zu können. Das bedeutet aber auch: Er kann nicht mehr fehlendes Wissen geltend machen, wenn sein Vabanquespiel nicht aufgeht. Nach über einem Jahr Pandemie kennt er die möglichen Konsequenzen seiner Politik und muss damit auch die Verantwortung dafür tragen.
Relevante Interessenverbindungen
Ich bin Präsident der Ideenschmiede «Reatch! Research. Think. Change.», welche das Franxini-Projekt lanciert hat. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.