Grüninger

View Original

Es wird tierisch statistisch

Güterabwägung: Keine graue Theorie mehr, sondern ab diesem Jahr bunte Praxis. (Bild: Nora Gamper).

Ich habe mich dazu entschieden, meinem ewigen Studentendasein ein Ende zu setzen. Und zwar mit der nächstbesten Sache: Einer Aneinanderreihung von befristeten Arbeitsverhältnissen zu geringem Lohn mit vielen Freiheiten, aber wenigen Sicherheiten. Kurz: Ich gehe in die akademische Forschung.

Ab Oktober arbeite ich am Institut für Mathematik der Universität Zürich - erstmal als wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann vielleicht auch als Doktorand. In beiden Fällen ist das Ziel, die Reproduzierbarkeit und die statistischen Aussagekraft von Tierversuchen zu verbessern. Und verbessern liesse sich so einiges: Auch wenn der Versuch am und mit dem Tier von grossem Wert ist, um grundlegende biologische und biomedizinische Erkenntnisse zu gewinnen, weisen viele wissenschaftliche Studien mit Tieren statistische Mängel auf. Mängel, die das Studienergebnis verzerren können und die auch bei wissenschaftlichen Studien ohne Tiere zu beobachten sind.

Statistikerinnen und Statistiker streiten deshalb seit bald 100 Jahren darüber, wie sich wissenschaftliche Versuche möglichst aussagekräftig und verlässlich planen, durchführen und auswerten lassen – nicht nur in Bezug auf Tierversuche, sondern ganz generell. Mittlerweile ist dieser Streit auch in anderen Disziplinen wie der Psychologie, der Ökonomie oder eben der biomedizinischen Forschung lautstark zu vernehmen.

In den kommenden Jahren werde ich also mitstreiten, mich dabei aber vor allem auf die Reproduzierbarkeit und statistische Aussagekraft von Tierversuchen konzentrieren. Das beinhaltet statistische und wissenschaftstheoretische Forschung gemischt mit biomedizinischem Fachwissen und einem Schuss Forschungspolitik. Also eigentlich das, womit ich schon seit Längerem rumspiele, nur dass ich neuerdings dafür bezahlt werde.

Oben: Servan als Student (Symbol-Gif). Rechts: Servan als Doktorand (In Tat und Wahrheit sind die Doktorandensaläre an der UZH ganz ordentlich - solange man sich nicht mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Privatindustrie vergleicht.)

Und selbstverständlich werde ich – unverbesserlicher Besserwisser, der ich bin – das erworbene Wissen auch weitergeben. Einerseits geschieht das in Form von zwei nationalen Labortierkursen zur Reproduzierbarkeit bzw. zur statistischen Aussagekraft von Tierversuchen, welche ich mitgestalte. Andererseits ist da noch die Sache mit der Tierversuchskommission.

Güterabwägung aus der ersten Reihe

In der Schweiz muss jeder Tierversuch von einer kantonalen Expertenkommissionen begutachtet werden, bevor Forschende irgendein Experiment durchführen dürfen. Die Kommission kontrolliert, ob die vielen gesetzlichen und wissenschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sind und nimmt dann eine Güterabwägung vor. Die Mitglieder müssen dabei beurteilen, ob die zu erwartenden Erkenntnisse des Versuchs die damit einhergehenden Belastungen für das Tier rechtfertigen. Eine herausfordernde Aufgabe, die neben Fachwissen auch viel Fingerspitzengefühl verlangt.

Im Kanton Zürich ist deshalb vorgeschrieben, dass die Mitglieder der Tierversuchskommission aus Fachleuten in de Bereichen Versuchstierkunde, Tierversuche, Ethik und Tierschutz stammen müssen. Aus meiner Sicht ist das nicht genug. Ich habe an mehreren Stellen schon auf die Bedeutung einer fachlichen Erweiterung um Vertreterinnen und Vertreter mit humanmedizinischer, aber auch statistischer Expertise verwiesen (z.B. hier, hier und hier). Dass die Forderung so bald erfüllt werden würde, habe ich nicht erwartet.

Noch viel weniger erwartet habe ich, dass ich dereinst selber in der Kommission über Anträge von Forschenden befinden würde. Seit diesem Sommer ist das der Fall. Der Zürcher Regierungsrat hat im Juli die 11 Mitglieder der Tierversuchskommission des Kantons Zürich ernannt und ich darf (muss?) bis 2023 Anträge von Forschenden der Universität Zürich und der ETH Zürich, aber auch der ZHAW und anderer öffentlicher und privater Forschungseinrichtungen im Raum Zürich beurteilen.

Dieser Aufgabe begegne ich mit Freude, aber auch mit sehr viel Respekt. Denn die Anträge sind zahlreich, die Fristen kurz und die Verantwortung gross. Zudem muss ich noch die eine oder andere Wissenslücke schliessen, zum Beispiel im Bereich der Tierphysiologie oder der Pharmakologie. Umgekehrt werde ich dank meiner Ausbildung in Biostatistik und rechnergestützter Wissenschaft die Expertise der Kommission im Bereich des Studiendesigns und der statistischen Datenanalyse sicherlich bereichern können.

Servan beim Beurteilen eines besonders komplexen und heiklen Antrags.

Über den Inhalt der einzelnen Anträge und der Kommissionssitzungen darf ich aufgrund des Amtsgeheimnisses nichts verraten. Aber über Tierversuche im Allgemeinen und die statistische Aussagekraft und Reproduzierbarkeit von Tierversuchen im Besonderen werde ich in den kommenden Monaten und Jahren wiederholt berichten. Soll mir also niemand vorwerfen, ich hätte sie nicht gewarnt!