Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Science Behind The Scenes» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von reatch. Den Original-Beitrag gibt es hier zu lesen.
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Vor vier Jahren war Schluss. Die Europäische Union verweigerte der Schweiz den Zugang zu ihrem Forschungsrahmenprogramm und zu Erasmus+, einem gesamteuropäischen Austausch- und Bildungsprogramm. Der hiesige Bildungs- und Forschungsstandort hatte auf einen Schlag den Zugang zu Europa verloren.
Auslöser war die Annahme der Volksinitiative «Gegen die Masseneinwanderung». Diese verlangte, dass die Schweiz ihre Einwanderung wieder eigenständig mittels Kontingenten steuerte – und stand damit in direktem Widerspruch zur Personenfreizügigkeit der Europäischen Union. Diese zögerte nicht lange und traf die Schweiz dort, wo es schmerzte: Beim Zugang zum europäischen Forschungsplatz.
Das kollektive Lamento von Forschungsvertretern und Bildungspolitikern war unüberhörbar– und ausserordentlich wirksam. In kürzester Zeit fanden sich Übergangslösungen. Die Schweiz gleiste für ihre Studierenden ein bilaterales Austauschprogramm mit anderen europäischen Universitäten auf und erwirkte eine Wiederaufnahme ins Forschungsrahmenprogramm der EU. Die hiesige Forschungsgemeinschaft ist mit einem blauen Auge davongekommen.
Politisches Eunuchentum führt in die Sackgasse
Zweifelsohne wäre es günstiger gekommen, sich bereits im Vorfeld zu Wort zu melden, statt im Nachhinein aufwändig Schadensbegrenzung zu betreiben. Doch weder das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation noch der Schweizer Nationalfonds noch die Schweizer Akademien der Wissenschaften noch die Rektorenkonferenz noch irgendwelche andere öffentliche oder private wissenschaftliche Organisationen schienen gewillt zu sein, ihr volles Gewicht in die politische Waagschale zu werfen. Nur ein zaghaftes Manifest für einen offenen Bildungs- und Forschungsplatz kam zustande – zwei Wochen vor der Abstimmung. Entsprechend wenig Widerhall fand das Manifest in Politik, Medien und Bevölkerung.
Die generelle Zurückhaltung gegenüber politischem Engagement wird von Forschenden oft damit begründet, dass die Wissenschaften unpolitisch bleiben müssten. In der Tat sollten sich Forschende vor einer Politisierung ihrer Arbeit in Acht nehmen. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der Politisierung der Wissenschaft auf der einen Seite und der Einmischung der Wissenschaften in die Politik auf der anderen Seite. Ersteres muss verhindert werden, Letzteres ist unumgänglich, wenn es die Interessen der Wissenschaften zu verteidigen gilt.
Die Zurückhaltung der Wissenschaften im Abstimmungskampf über die Masseneinwanderungsinitiative hat indirekt dafür gesorgt, dass die Schweizer Forschungslandschaft mitten in die Grabenkämpfe nationaler Politik und die Wirren europäischer Diplomatie gezogen wurde. Der Forschungsplatz Schweiz ist zum politischen Verhandlungspfand geworden – eine grössere Politisierung lässt sich kaum denken.
Wissenschaftliche Freiheiten wollen verteidigt werden
Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative war nicht die erste, bei der wissenschaftliche Interessen auf dem Spiel standen. Insbesondere die biologische und biomedizinische Forschung hatte wiederholt existenzbedrohende Abstimmungen in Form von absoluten Gentechnik- oder Tierversuchsverboten zu überstehen – in den meisten Fällen mit glimpflichem Ausgang.
Die Schweizer Stimmbevölkerung scheint wissenschaftlichen Interessen durchaus Rechnung zu tragen. Nur in wenigen Fällen entscheidet sie sich dafür, Forschungsfreiheiten einzuschränken oder zumindest hintenanzustellen. Beispiele hierfür sind die Annahme des Gentechnikmoratoriums im Jahre 2005 oder die eingangs erwähnte Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative. Solche Entscheide sind legitim und es ist vermessen, sich nach einer Abstimmung über deren Ausgang zu empören. Besser wäre es, den eigenen Argumenten im Vorfeld nachdrücklich Gehör zu verschaffen.
Eine Demokratie lebt dann, wenn ein gesunder Wettbewerb der Ideen und Meinungen herrscht. Wenn Forschende wollen, dass ihre Anliegen gehört werden, müssen sie diese auch in den politischen Prozess einbringen. Denn die gesellschaftliche Stellung der Forschung lässt sich nicht wissenschaftlich herleiten, sondern muss immer wieder von Neuem politisch ausgehandelt werden.
Nur nicht zurücklehnen!
Die Masseneinwanderungsinitiative und ihre Folgen waren für viele Forschende ein Weckruf. Es bleibt zu hoffen, dass die darauffolgende Mobilisierung von Bestand sein wird. Denn die Gefahren für den Wissens- und Forschungsplatz Schweiz werden bleiben. In Basel ist die älteste Universität des Landes zum politischen Spielball im finanzpolitischen Tauziehen zweier Halbkantone geworden. Im November kommt die «Selbstbestimmungsinitiative» vors Volk, die den Schweizer Forschungsplatz erneut vom Rest Europas abzuschneiden droht. Gleichzeitig sammelt eine Gruppe radikaler Wissenschaftskritiker Unterschriften, um jede Forschung mit Mensch und Tier zu verbieten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten sich nicht zurücklehnen, denn die Auseinandersetzungen um wissenschaftliche Interessen sind schon da.