Ein Gastkommentar aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. Mai 2018. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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In der Schweiz dürfen wir uns glücklich schätzen, über fast jedes Thema abstimmen zu können. Kein Thema ist zu komplex, kaum eines zu kontrovers, als dass es nicht zumindest die Möglichkeit einer Volksabstimmung darüber gäbe. Umgekehrt bedeutet das jedoch, dass niemand über alle Aspekte aller Vorlagen Bescheid wissen kann. Hinzu kommt, dass einige Vorlagen so komplex sind, dass sie für Laien kaum zu verstehen sind. Oder könnten Sie wirklich von sich behaupten, die Vorlage zur Unternehmenssteuerreform III (Abstimmung vom 12. Februar 2017) in allen Details durchdrungen zu haben?
Auch in der kommenden Abstimmung vom 10. Juni gelangen mit dem Geldspielgesetz und der Vollgeldinitiative wieder zwei inhaltlich anspruchsvolle Vorlagen an die Urne. Die im Geldspielgesetz vorgesehenen Netzsperren zum Beispiel sind für technische Laien nicht sofort verständlich. Und wer nicht gerade Volkswirtschaft studiert hat oder im Finanzsektor arbeitet, wird auch die Vollgeldinitiative auf Anhieb kaum durchschauen können.
Beide Themen sind ausserdem politisch sehr brisant: Das Geldspielgesetz würde zum ersten Mal Netzsperren gesetzlich festschreiben. Die Vollgeldinitiative will das gesamte Finanzsystem umkrempeln und tangiert damit sowohl staatliche wie auch private Interessen.
Warum es Experten braucht
Es ist daher wünschenswert, dass Expertinnen und Experten in die Debatte eingreifen. Wenn Politiker behaupten, dass sich Netzsperren nicht nur massvoll, sondern auch effektiv einführen liessen, dann braucht es Internetexperten, die mit diesem Irrglauben aufräumen: Entweder werden Netzsperren massvoll umgesetzt – dann sind sie aber wenig effektiv, da sie leicht zu umgehen sind. Oder sie werden effektiv implementiert – dann sind sie jedoch nicht mehr massvoll. Beides gleichzeitig geht nicht.
Für Experten ist die Einmischung in politische Debatten keine leichte Aufgabe. Erstens müssen sie ihr Wissen der Allgemeinheit in verständlicher Form zugänglich machen, indem sie Sachverhalte vereinfachen und gewisse Informationen auslassen. Das will gelernt sein. Zweitens müssen sich Experten auf Widerspruch von Menschen einstellen, die über weniger Fachwissen verfügen und deswegen wohl den einen oder andern fachlichen Fehler begehen.
Wer mehr weiss, ist in der Bringschuld
«Der hat ja keine Ahnung», könnte man sich als Expertin denken und die Diskussion für beendet erklären, wenn sich Laien zu weit aus dem Fenster lehnen. Wer fachlich falsch liegt, der disqualifiziert sich auch politisch – so die irrige Annahme von vielen Experten. Doch das ist nur dann zutreffend, wenn ein Argument auf einem inhaltlichen Missverständnis aufbaut. Dazu gehört zum Beispiel die Aussage, dass sich Netzsperren ohne Manipulation von Internetprotokollen vornehmen liessen.
In solchen Fällen – und nur in solchen Fällen – ist es zulässig, die Position eines Diskussionsteilnehmers mit Verweis auf dessen mangelnde fachliche Kenntnisse anzugreifen. Im Allgemeinen sind fachliche Fehler aber kein ausreichender Grund, eine Argumentation zu ignorieren. Eine Expertin, die ihrem Gegenüber Ahnungslosigkeit zum Vorwurf macht, ist in der Bringschuld.
Erstens muss sie dem Laien aufzeigen, worin sein fachlicher Fehler besteht. Sonst hat dieser gar keine Möglichkeit, den Fehler zu erkennen und die Aussage des Gegenübers zu überprüfen.
Zweitens muss sie aufzeigen, warum der fachliche Fehler für die Diskussion relevant ist. Wenn sich der Fehler nur auf ein technisches Detail bezieht, der Rest der Argumentation aber korrekt ist, dann ist es unredlich, die Argumentation des Gegenübers einzig mit Verweis auf den fachlichen Fehler anzugreifen.
Anders gesagt: Ein Experte muss zeigen können, dass der kritisierte Mangel an Wissen in einem direkten Zusammenhang mit dem kritisierten Argument steht. Politiker, die sich eine Meinung zu Netzsperren bilden möchten, müssen den Unterschied zwischen einem «autoritativen» und einem «nichtautoritativen Name-Server» nicht kennen. Aber sie müssen eine ungefähre Ahnung haben, wie ihr Browser die Verbindung zu einer Website herstellt, und wissen, dass es mehr als einen Weg gibt, diese Verbindung zu realisieren. Effektive Netzsperren sind nur dann möglich, wenn sämtliche dieser Wege so weit wie möglich blockiert werden – mit potenziell unerwünschten Nebeneffekten.
Eine Meinung ist kein Fakt
Gerade bei komplexen Abstimmungsvorlagen ist die Gefahr gross, aneinander vorbeizureden. Aus diesem Grund ist es wichtig herauszufinden, ob eine Meinungsverschiedenheit auf fehlerhaften technischen Annahmen oder auf unterschiedlichen politischen Haltungen beruht.
Das gilt besonders dann, wenn jemand nicht nur Expertise vorweisen kann, sondern auch eine persönliche Meinung zu einem bestimmten Thema hat. Um wieder auf die Netzsperren zurückzukommen: Viele, die sich im Bereich der Netzwerksysteme und der Informationstechnologie auskennen, können die Funktionsweise und die Auswirkungen von Netzsperren nicht nur erklären, sondern haben auch eine politische Haltung dazu. Diese Doppelrolle ist nicht verwerflich, birgt aber die Gefahr, dass technische und politische Aspekte vermischt werden.
So lässt sich die Vehemenz, mit der einige IT-Spezialisten gegen Netzsperren argumentieren, rein technisch nicht begründen. Das ist aber auch gar nicht nötig. Wer aus politischer Überzeugung gegen Zensur ist, hat auch ein starkes Argument in der Hand, gegen Netzsperren zu sein. Gerade als Experte ist es aber besonders wichtig, eine Unterscheidung zwischen technischen und politischen Fragen zu machen. Ein entnervtes «Sie haben ja keine Ahnung!» wirkt demgegenüber nicht nur arrogant, sondern zielt auch meist am Kern der Meinungsverschiedenheit vorbei.