Die staatlichen Massnahmen im Kampf gegen COVID-19 haben bisweilen drastische Auswirkungen: Restaurants und Läden mussten schliessen; Bewegungs- und Versammlungsfreiheit wurden eingeschränkt; Parlamente konnten oder können zumindest temporär nicht mehr tagen. Kurz: Im Kampf gegen COVID-19 standen und stehen viele verfassungsmässig verbriefte Rechte und Freiheiten unter Druck.
Dass dies keine Begeisterungsstürme auslöst, ist verständlich. Und es ist richtig und wichtig, dass Medienschaffende die politischen Massnahmen im Kampf gegen COVID-19 kritisch begleiten – auch in Staaten wie der Schweiz oder Deutschland, in denen aufgrund der starken demokratischen Institutionen kein «Autokratisierung» der Politik zu befürchten ist. Das Republik-Magazin führt beispielsweise eine regelmässig aktualisierte Übersicht über die verschiedenen Rechte und Freiheiten, die aufgrund der vom Bundesrat erlassenen Verordnungen zu COVID-19 eingeschränkt sind [1]. Auch die NZZ hat mehrere Artikel und Gastkommentare zum Thema veröffentlicht (siehe z. B. [2, 3]).
Parallel zu solchen nüchternen, wenn auch kritischen Auseinandersetzungen zirkulieren in den sozialen Netzwerken eine Vielzahl von Videos und Texten, die in den Präventionsmassnahmen gegen COVID-19 den ersten Schritt in Richtung Diktatur sehen. Gerne werden dabei auch verschwörungstheoretische Stereotype bedient. Beispielsweise, dass alle Politiker und Wissenschaftler «gekauft» seien und nach der Pfeife dunkler Mächte tanzen würden – wahlweise angeführt von Bill Gates, George Soros oder anderen beliebten Zielscheiben solcher Theorien.
Deren Machenschaften würden dafür sorgen, dass die Bevölkerung systematisch belogen, der Rechtsstaat ausgehebelt und die Demokratie abgeschafft werde. Es werde deshalb Zeit für den «organisierten Widerstand» [4]. Zuspruch erhalten solche Behauptungen auch von mehr oder weniger prominenten Persönlichkeiten bzw. Menschen, die durch die allgegenwärtig COVID-19-Berichterstattung überhaupt erst berühmt geworden sind [5].
Dass solche verbalen Ergüsse auf Youtube und Facebook bei einem Millionenpublikum Anklang finden, ist erstaunlich. Zwar ist es oft sehr aufwändig, unwahre Behauptungen inhaltlich zu entkräften [6], weil es nur wenig Zeit kostet, um eine plausibel klingende, aber falsche Behauptung in die Welt zu setzen, aber in der Regel viel Aufwand nötig ist, um sie zu widerlegen. Doch die Argumentationsweise in den Videos und Texten, die demokratisch abgestützte Präventionsmassnahmen gegen eine Pandemie als «Gesundheitsdiktatur» betrachten, ist oft derart hanebüchen und in sich widersprüchlich, dass sie im Grunde selbstentlarvend wären.
So berufen sich viele «kritische Nachfrager» gerne auf die Prinzipien des Rechtsstaats und der Wissenschaftlichkeit, aber verurteilen, ohne Belege zu liefern, und verallgemeinern, statt zu differenzieren. Sie kritisieren «journalistischen Einheitsbrei» und «mediale Gleichschaltung», rufen aber dazu auf, nur noch ganz bestimmte Medien zu konsumieren. Und sie fordern kritisches Denken sowie das Hinterfragen von Autoritäten, schwingen sich aber selber zur «Wahrheitsinstanz» auf, um die Welt pauschal in «richtig» und «falsch» einzuteilen.
Kurz: Sie sind derart damit beschäftigt, «ohne Scheuklappen» zu denken, dass sie gar nicht zu merken scheinen (oder nicht merken wollen), wie sie ihren Zuschauern oder Lesern eben solche Scheuklappen aufzwingen und zirkelschlüssig ihre eigene Meinung verabsolutieren: Gut ist nur, was sie für gut befinden. Wer Kritik übt, ist dumm, korrupt oder beides. Entlarvend ist das – aber auch sehr besorgniserregend.
Relevante Interessenverbindungen
Keine. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.
Quellen
[1] Bühler et a. (2020). Wo unsere Rechte eingeschränkt werden. Republik-Magazin (https://www.republik.ch/2020/04/30/watchblog-wo-unsere-rechte-eingeschraenkt-werden, abgerufen am 05. Mai 2020).
[2] Forster (2020). Die Corona-Krise hat Defizite beim Parlament aufgezeigt. Für die Zukunft muss sich einiges verändern (https://www.nzz.ch/meinung/corona-krise-zeigt-defizite-im-parlament-auf-ld.1554222, abgerufen am 05. Mai 2020).
[3] Cottier und Müller (2020). Die Grundrechte gelten auch in der Krise. Neue Zürcher Zeitung (https://www.nzz.ch/meinung/die-grundrechte-gelten-auch-in-der-krise-ld.1551874, abgerufen am 05. Mai 2020).
[4] Klaus (2020). Wer hinter "Widerstand 2020" steckt. ZDF (https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-widerstand2020-partei-100.html, abgerufen am 05. Mai 2020).
[5] Rühle (2020). Die Allianz des Unsinns. Süddeutsche Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/kultur/hygiene-demos-coronavirus-verschwoerungstheorien-1.4896453, abgerufen am 05. Mai 2020).
[6] Kessler (2020). Coronavirus: Der schwierige Kampf gegen Krankheitsmythen. Medienwoche ( https://medienwoche.ch/2020/02/18/der-schwierige-kampf-gegen-krankheitsmythen/, abgerufen am 18. Februar 2020).