Der folgende Artikel ist in der NZZ vom 29.10.2023 unter dem Titel «Falsche Wahlresultate, zu hohe Temperaturen bei SRF: Statistiken schaffen Wirklichkeit – umso wichtiger ist es auch für Medien, ihnen nicht blind zu vertrauen» erschienen. Den Original-Artikel gibt es hier zu lesen.
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«Ist das ein historischer Tag für die Schweiz?», fragte die «NZZ». Ausgerechnet zum 175-Jahr-Jubiläum der Schweiz fielen die Freisinnigen, die den modernen Bundesstaat aus der Taufe gehoben hatten, in der Rangfolge der Parteien auf Platz vier zurück, Die Mitte, die Nachfolgerin der Nachfolgerin der Katholisch-Konservativen und damit die historisch ärgste Konkurrentin des Freisinns, schob sich an der FDP vorbei aufs Podest. Die subtile Verschiebung der prozentualen Kräfteverhältnisse löste ein kleines mediales Erdbeben aus. Sofort wurde darüber diskutiert, ob die FDP einen Sitz im Bundesrat abgeben müsse, und in einer Nachwahlbefragung befand die Hälfte, dass der Mitte-Partei ein zweiter Sitz zustehe.
Dumm nur: Die Mitte hat gar nicht mehr Wählerstimmen erhalten als die FDP – das Bundesamt für Statistik (BfS) hat sich verrechnet. Anstatt 0.2 Prozentpunkte vor der FDP liegt die Mitte in Wahrheit 0.2 Prozentpunkte hinter den Freisinnigen. Dennoch hat die Schweiz drei Tage in einer Wirklichkeit gelebt, in der Historisches geschehen ist. Eine Wirklichkeit, die statistisch erschaffen und mit den Korrekturen des BfS wieder statistisch zerstört wurde. Die Statistik hat gegeben, und die Statistik hat genommen.
Oft zählt nur, was gezählt ist
Ob Bruttoinlandprodukt, Ausländeranteil oder Corona-Fälle, Statistiken schaffen Wirklichkeiten, an denen sich wirtschaftliche Entwicklungen, politische Entscheide, wissenschaftliche Schlüsse und mediale Debatten orientieren. Selbst wenn sie fehlen, offenbaren Statistiken ihre Macht. Weil seriöse statistische Erhebungen einiges kosten, verengt sich der diskursive Rahmen meist auf jene Zahlen, die es schon gibt. So zählt nur, was gezählt ist. Dass beispielsweise viel über Ausländerkriminalität und wenig über Armutskriminalität diskutiert wird, hat auch damit zu tun, dass die Nationalität von Straftätern routinemässig erfasst und publiziert wird, deren sozio-ökonomischer Status hingegen nicht. So lässt sich die diskursive Macht von Statistiken gezielt missbrauchen, indem man ausschliesslich die Erhebung jener Zahlen fordert, von denen man sich die Bestätigung der eigenen Meinung erhofft.
Die Eigenschaft von Statistiken, politische Wirklichkeiten zu schaffen, ist nicht neu, sondern steht am Anfang ihrer Geschichte. Als der Göttinger Jurist Gottfried Achenwall den Begriff «Statistik» Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals einführte, beschrieb er damit eine Art «Wissenschaft vom Staat». Die Statistik sollte all das erfassen, worüber der Staat herrschte: seine Bevölkerung, seine Geografie, seine Produktionsmittel, seine politischen Systeme. So schuf sie die Grundlagen für effektives Staatshandeln, förderte aber auch die gemeinsame Identität nach innen sowie die Abgrenzung nach aussen.
So geschah auch die Erfindung der Schweizer Nation mit statistischer Hilfe. Stefano Franscini, Lehrer, Publizist, Statistiker und Bundesrat, lieferte im 19. Jahrhundert eine umfassende statistische Beschreibung der Schweiz. Mit detaillierten Zahlen zu Bevölkerung, Geografie, Wirtschaft, Politik und Religion verband er einen losen Bund selbstverwalteter Staaten zu einer nationalen Einheit. Seine statistische Arbeit wirkte deshalb auch politisch: Franscini beschrieb die Schweiz nicht bloss, er schuf sie neu aus Zahlen.
Abstimmungsannulation wegen falschen Statistiken
Mittlerweile hat sich die Statistik davon emanzipiert, bloss die Wissenschaft vom Staat zu sein. Längst ist sie zur zentralen Hilfswissenschaft in den Sozial-, Ingenieurs- und Naturwissenschaften geworden. Auch technologische Umwälzungen, mit all ihren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft, werden zu einem wesentlichen Teil von Statistik getrieben: So sind die jüngsten Durchbrüche des maschinellen Lernens, gerne auch als «künstliche Intelligenz» vermarktet, im Wesentlichen statistischen Methoden zu verdanken. Und mit dem aufkeimenden «Datenjournalismus» prägen statistische Informationen immer stärker auch den medialen Blick auf die Welt.
Die enge Verbindung von Staat und Statistik ist jedoch geblieben, wenn nicht sogar inniger geworden. Schliesslich wäre der moderne Staat ohne verlässliche statistische Daten unfähig, zielführend zu regieren. Umso schwerer wiegen deshalb Fehler, wenn sie entdeckt werden. Schliesslich wird dabei nicht bloss ein Rechenfehler korrigiert, sondern eine Wirklichkeit zerstört, wie ein früherer Urnengang zeigt.
2016 verwarf das Schweizer Stimmvolk hauchdünn die CVP-Initiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe». Im Nachgang stellte sich jedoch heraus, dass der Bund falsche Zahlen kommuniziert hatte: Statt ungefähr 80'000 waren fast 700’000 Ehepaare von einer Benachteiligung bei Steuern und Rente betroffen. So lebten die Stimmberechtigten am Abstimmungstag in einer statistisch geschaffenen Wirklichkeit, welche die Heiratsstrafe weniger schlimm erscheinen liess, als sie es tatsächlich war. Die dadurch resultierenden Unregelmässigkeiten beurteilte das Bundesgericht als derart «krass», dass es zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz eine eidgenössische Volksabstimmung annulierte.
Auch andernorts gehen die Wellen hoch, wenn sich statistische Resultate als falsch entpuppen. Spüren musste das diesen Sommer das Team von SRF-Meteo, weil einige ihrer Temperaturvorhersagen, zum Beispiel für Küstenorte am Mittelmeer, systematisch zu hoch ausfielen. Wetterinformationen basieren letztlich auf komplexen statistischen Modellen. Sind diese nicht korrekt validiert, kann es zu solchen Fehlern kommen, wodurch die statistisch vermittelte Wirklichkeit des Wetterberichts in einen Widerspruch gelangt mit der gemessenen Wirklichkeit vor Ort. In Zeiten, in denen mit Temperaturkurven Politik gemacht wird, sind solche Fehler Wasser auf die Mühlen derjenigen, die den Klimawandel ohnehin für einen Schwindel halten.
Fehler korrigieren und noch besser vermeiden
Umso wichtiger ist es, im Fehlerfall Verantwortung zu übernehmen und nachzubessern. Bei einigen geschieht dies schneller als bei anderen: Georges-Simon Ulrich, der Direktor des Bundesamts für Statistik, informierte die Öffentlichkeit proaktiv über die falsch berechneten Wähleranteil und klärte darüber auf, wie ein technischer Fehler zum Debakel geführt hatte. Auch Thomas Bucheli, der Leiter von SRF Meteo, erklärte zur besten Sendezeit, wie es zu den falschen Temperaturangaben gekommen war – jedoch erst nachdem «Die Weltwoche» diese publik gemacht hatte. Selbst der Bundesrat konnte sich – nach etwas mehr Bedenkzeit – dazu durchringen, mehr Ordnung in die Auswertung von Steuerdaten zu bringen: Gut sieben Jahre nach der Volksabstimmung über die Heiratsstrafe hat er beschlossen, bei der Planung von Steuer- und Sozialreformen verlässlichere Daten zu verwenden.
Noch wichtiger, als Fehler zu korrigieren, ist es jedoch, sie zu vermeiden. Mit der fortschreitenden Digitalisierung ist es deshalb zentral, technische Schnittstellen so aufzusetzen, dass der Austausch von Daten – im Gegensatz zum letzten Wahlsonntag – ohne böse Überraschungen endet. Ebenso braucht es transparente und nachvollziehbare Methoden und vor allem genügend Zeit und Ressourcen, um erhobene und analysierte Daten sorgfältig es zu prüfen. «Wichtig ist in erster Linie, dass man auf die Ergebnisse vertrauen kann», meinte dann auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister als Reaktion auf die korrigierten Wähleranteile des BfS. Verlässlichkeit und Qualität amtlicher Statistiken sollten deshalb vor Geschwindigkeit gehen. Schliesslich steht nichts Geringeres als die Wirklichkeit auf dem Spiel.
Relevante Interessenverbindungen
Ich bin Biostatistiker und Fellow des Center for Reproducible Science an der Universität Zürich. Ebenso ist er Mitglieder der Partei «Die Mitte», Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.