Ein überarbeiteter Beitrag aus dem Science Blog von «NZZ Campus». Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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Zahlen haben etwas beruhigend Autoritäres. Sie sind etwas, woran man sich festhalten kann in stürmischen Zeiten. Wer «harte» und «objektive» Zahlen vorweist, der will sich von denen abheben, die nur mit Bauchgefühlen und Meinungen argumentieren.
Dahinter steckt der Glaube, Zahlen allein würden ausreichen, um etwas zu belegen. Aber das stimmt nicht. Häufig verwirren nackte Zahlen bloss. Jüngstes Beispiel: die Diskussion über die Terrorgefahr in Europa. Die Berichterstattung über die Attentate in Frankreich, Belgien oder Deutschland erweckt den Eindruck, der Terror sei omnipräsent. Fast so omnipräsent sind auch die Statistiken, die eben diesen Terror relativieren sollen. Drei Formen sind besonders beliebt:
Die «Früher war es schlimmer!»-Statistik
Die «In anderen Ländern gibt es mehr Opfer!»-Statistik
Die «Fischgräten sind gefährlicher!»-Statistik
Die Behauptung der kühl kalkulierenden Jongleure von Sterbewahrscheinlichkeiten lautet: «Die Zahlen sprechen für sich».
Nein, das tun sie eben nicht.
Gewalt mit politischer Dimension
Wenn irgendwo ein Mord geschieht, rechnen wir den Hinterbliebenen auch nicht vor, dass es früher viel mehr Gewalttaten gab, dass es im Irak noch viel gefährlicher ist und dass durch Fischgräten mehr Menschen sterben als durch Tötungsdelikte. Wieso sollten solche Vergleiche bei Terroranschlägen relevant sein?
Im Gegensatz zu den meisten Gewaltverbrechen hat der organisierte Terrorismus immer auch eine politische Komponente: Die Terroristen wollen gezielt Schrecken verbreiten, um damit politische Veränderungen herbeizuführen. Damit löst sich die Diskussion von der rein persönlichen Ebene und wechselt in die politische Arena.
Anders gesagt: Natürlich rechnen wir den Hinterbliebenen eines Mordopfers nicht vor, wie unwahrscheinlich ein Tötungsdelikt doch ist. Umgekehrt fordern wir nach einem Mord auch nur selten eine drakonische Verschärfung unseres Rechtssystems oder zusätzliche Sicherheitsmassnahmen, wie das nach Terroranschlägen oft geschieht. Insofern ist es richtig, die Häufigkeit und Gefährlichkeit von Terroranschlägen in einen grösseren Kontext zu setzen. Doch wer Terror auf nackte Zahlen reduziert, stellt noch keine Zusammenhänge her.
Terrorismus im Wandel der Zeit
Es ist unsinnig, aus den hohen Terrorzahlen der Vergangenheit abzuleiten, dass der heutige Terror keine ernstzunehmende Gefahr für die Bevölkerung darstelle. Die Anschläge von früher waren regional begrenzt und ideologisch anders motiviert als der international agierende islamistische Terrorismus. Das Verschwinden der linksextremen «Rote Armee Fraktion» in Deutschland, des faschistischen «Ordine Nuovo» in Italien oder der «Irish Republican Army» in Irland und Grossbritannien sagt wenig über die heutige Gefahr durch den IS oder die Al-Qaida aus.
Auch der Vergleich zwischen Opferzahlen in europäischen und nicht-europäischen Ländern ist nicht hilfreich. Denn zu wissen, wie viele Tote der Terror im Irak gefordert hat, sagt noch nichts darüber aus, wie wir auf eine mögliche Gefahrsituation in der Schweiz reagieren sollen.
Tod durch Fischgräten
Um Zahlen vergleichen zu können, müssen wir sie miteinander vergleichbar machen. Ansonsten bleibt der Erkenntnisgewinn aus. Was lernen wir aus der Tatsache, dass der Terror in Europa weniger Menschenleben fordert als Autounfälle, Blitzschläge oder verschluckte Fischgräten? Dass Autos und Fischgräten gefährlicher sind als Terroristen? Gilt das pro Jahr beziehungsweise verspeiste Gräte oder hochgerechnet auf alle Ereignisse? Und bedeutet das im Umkehrschluss, dass sich ein zugfahrender Vegetarier mehr vor dem Terror fürchten sollte als ein fischliebender Autonarr?
Natürlich nicht. Selbst wenn die Vergleichszahlen stimmen – und das tun sie im Falle der Fischgräte schon mal nicht – wird hier ein allzu simpler Ansatz gewählt, um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen: Anzahl Tote geteilt durch Gesamtbevölkerung – fertig ist das Sterberisiko durch Terroranschläge, Blitzschläge oder Fischgräten. Eine reine Milchbüchleinrechnung.
Selbstverständlich sterben mehr Menschen an Autounfällen als an Terroranschlägen. Es sind ja viel mehr Autos als Terroristen auf den Strassen unterwegs. Auch Blitze schlagen häufiger ein, als Autobomben gezündet werden. Und jeder von uns würde wohl lieber einen besonders grätigen Fisch verspeisen, als ein Rendezvous mit einem Terroristen zu haben.
Individuelle Risiken gegen Durchschnittszahlen
Zudem lassen sich solche Durchschnittswahrscheinlichkeiten nicht einfach auf ein einzelnes Individuum herunterbrechen. Dazu müssten wir schon davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit pro Todesart für alle Personen zu jedem Zeitpunkt gleich ist. Aber das ist eine gewagte Annahme.
So kommen in der Schweiz verschwindend wenige Menschen bei einem Unwetter ums Leben. Das bedeutet aber nicht, dass wir bei einem Gewitter unbekümmert in den Bergen wandern sollten. Umgekehrt kann ich bei strahlendem Sonnenschein getrost von einem Sterberisiko durch Unwetter von 0% ausgehen.
Vielen Risiken können wir also kontrollieren. Ein Forstwart wird eher von einem Baum erschlagen als ein Bankangestellter. An einem Motorradunfall stirbt nur, wer Motorrad fährt. Auf dem Trockenen ist noch niemand ertrunken.
Bei einem Terroranschlag gibt es aber kaum Möglichkeiten zur individuellen Vorbeugung. Zumindest nicht, ohne massive Einbussen der eigenen Lebensweise in Kauf zu nehmen.
Spielt die Art des Todes eines Rolle?
Natürlich bleibt die Wahrscheinlichkeit, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, sehr gering. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die oben beschriebenen Vergleiche weitgehend Unsinn sind.
Die Beurteilung von Risiken ist aber nicht nur eine Frage der Statistik. Es liegt an uns und der Gesellschaft, einem bestimmten Ereignis nicht nur eine mathematische Wahrscheinlichkeit, sondern auch ein materielles oder ideelles Gewicht zuzuweisen. Es mag Menschen geben, die lieber an einer Krankheit sterben, als von einer Bombe zerfetzt zu werden. Andere würden den schnellen Tod vorziehen oder haben überhaupt keine Präferenz.
Hier tut sich neben der rein statistischen Ebene eine philosophische Diskussion auf: Ist der Tod durch eine Fischgräte vergleichbar mit einem Terroranschlag? Spielt es für die Hinterbliebenen keine Rolle, ob hinter dem Ableben eines Angehörigen eine Tötungsabsicht oder einfach nur Pech steckt?
Zahlen allein liefern keine Lösungen
Die oben beschriebenen Vergleiche gehen alle davon aus, dass die Art und Weise des Todes irrelevant ist. Ob durch Fischgräte oder Schnellfeuerpistole; durch Motorradunfall in der Innerschweiz oder Autobombe in Bagdad – tot ist tot.
So kann man argumentieren, aber es überzeugt nicht. Ethik und Recht unterscheiden klar zwischen vorsätzlicher Schädigung und Unfall; zwischen Ereignissen höherer Gewalt und menschlicher Niedertracht. Diese Unterscheidung wird ausgeblendet, wenn man einen terroristischen Anschlag mit dem Verschlucken einer Gräte vergleicht.
Ich argumentiere mit diesem Text weder für noch gegen mehr Terrorbekämpfung. Ich will lediglich zeigen, wie sinnlos oder irreführend gewisse Statistiken sein können, die versprechen, den Schrecken von Terroranschlägen zu «kontextualisieren». Insbesondere dann, wenn Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Zahlen an sich liefern keinen Kontext, sie brauchen Kontext, um verstanden zu werden. Ansonsten stiften sie Verwirrung, anstatt Klarheit zu schaffen.