Der folgende Artikel erschien im Online-Magazin «Higgs» vom 16. März 2020. Den Original-Artikel gibt es hier zu lesen.
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«Die Statistik besagt, die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Infizierter in einem Kollektiv von 20 Personen befindet, [am 12. März] 17 Prozent betrug.»
Diese Aussage machte Adriano Aguzzi, Direktor des Instituts für Neuropathologie am Universitätsspital Zürich, am Freitag in einem Interview auf higgs. Wie «die» Statistik auf diese Wahrscheinlichkeit kommt, erläuterte er nicht. Nachvollziehbare und kontextualisierte Aussagen sind aber gerade in diesen hektischen Zeiten entscheidend, um verlässliche Informationen von Spekulation unterscheiden zu können. Redaktionen und Experten sind hierbei gleichermassen gefragt: Medienschaffende müssen mittels Recherchen und kritischen Rückfragen dafür sorgen, dass die Aussagen korrekt eingeordnet und die Annahmen transparent gemacht werden. Die Fachleute sind angehalten, konsequent zwischen gesicherten und ungesicherten Angaben zu unterscheiden und ihre Annahmen offenzulegen. Deshalb folgt hier eine Nachberechnung der eingangs erwähnten Behauptung, damit alle nachvollziehen können, auf welchen Annahmen sie beruht.
Gesucht ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer Gruppe von 20 zufällig ausgewählten Personen mindestens eine Person befindet, die mit SARS-CoV-2, dem neuen Coronavirus, infiziert ist. Laut Angaben des Forschers, der die Berechnung angestellt hat, wurde eine sogenannte Poisson-Verteilung als Grundlage für die Berechnungen genommen. Mit dieser Information können wir berechnen, dass diese Wahrscheinlichkeit nur dann korrekt ist, wenn am 12. März bereits knapp 80 000 Personen in der Schweiz mit SARS-CoV-2 infiziert waren (die detaillierten Berechnungen finden sich hier). Für den selben Tag gab das Bundesamt für Gesundheit (BAG) an diesem Tag aber lediglich 815 bestätigte Fälle bekannt – also fast 100 Mal weniger.
Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Im ersten Fall wurde die tatsächliche Zahl der Infizierten wohl über-, im zweiten Fall ganz sicher unterschätzt.
Es gibt mehr Infizierte als offiziell bestätigt
Da es eine Weile dauert, bis Covid-19 in einem Menschen ausbricht, werden nicht alle Infizierten sofort getestet. Ebenso erleben viele Infizierte glücklicherweise einen milden Verlauf der Erkrankungen, was aber auch dazu führen kann, dass sie sich gar nicht bewusst sind, infektiös zu sein und sich damit auch nicht testen lassen. Zudem werden nicht mehr alle Menschen, die Symptome von Covid-19 zeigen, darauf getestet. All dies führt dazu, dass die vom BAG kommunizierte Zahl der bestätigten Fälle nur die unterste Schwelle der tatsächlichen Anzahl von infizierten Personen darstellt.
Schon beim Ausbruch in Wuhan zeigten epidemiologische Modellierungen, dass die berichteten Fallzahlen das tatsächliche Ausmass der Epidemie zu tief wiedergaben. Und eine Untersuchung der Fälle in Italien kam zum Schluss, dass am 29. Februar etwa drei Viertel der italienischen Covid-19-Fälle nicht identifiziert waren. Das würde bedeuten, dass es zu diesem Zeitpunkt ungefähr vier Mal mehr infizierte Personen in Italien gab, als bestätigt waren. Die höchste Dunkelziffer, die ich für die Schweiz finden konnte, war eine Einschätzung von Pierre Dessemontet im Tages-Anzeiger, der für den 13. März von ca. 10 000 infizierten Personen in der Schweiz ausging. Das BAG berichtete an diesem Tag 1009 bestätigte Fälle, es handelt sich also um eine potentielle Unterschätzung um den Faktor 10. Die Dunkelziffer bei den tatsächlich erfassten Fallzahlen ist also hoch – aber wohl nicht derart hoch, dass wir davon ausgehen müssten, dass am 12. März fast 100 Mal mehr Personen infiziert waren, als offiziell bestätigt wurde.
Spielen wir trotzdem einmal durch, welchen Einfluss die verschiedenen Schätzungen auf die Wahrscheinlichkeit haben, dass sich am 12. März in einer Gruppe von 20 zufällig ausgewählten Personen mindestens eine infizierte Person befand (die Detailberechnungen dazu befinden sich wiederum hier). Beginnen wir mit der vom BAG kommunizierten Zahl von 815 bestätigten Fällen am 12. März. Wenn wir von dieser Zahl ausgehen, welche wie erwähnt zu tief ist, beträgt die Wahrscheinlichkeit knapp 0.2 Prozent. Wenn wir von 10 000 Fällen ausgehen, beträgt sie ungefähr 2.3 Prozent. Und wenn wir von 100 000 Personen ausgehen, beträgt die Wahrscheinlichkeit knapp 21 Prozent.
Ich möchte betonen, dass diese Berechnungen keine verlässlichen Risikoeinschätzungen sind, da sie auf sehr vereinfachten Annahmen beruhen. Doch sie demonstrieren, wie wenig intuitiv Wahrscheinlichkeiten sind. Gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl wirken die bestätigten und geschätzten Infektionszahlen immer noch sehr tief. Wer aber daraus schliesst, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, irrt gewaltig. Einerseits steigen die Fallzahlen zurzeit exponentiell schnell, weshalb jeder einzelne Tag zählt, um den Ausbruch einzudämmen. Andererseits ist das Risiko, jemandem zu begegnen, der oder die infiziert ist, um ein Vielfaches höher, als es die relative Zahl der Infizierten auf den ersten Blick vermuten lässt. 100 000 infizierte Personen entsprechen knapp 1.2 Prozent der Bevölkerung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter dieser Annahme in einer Gruppe von 20 zufällig ausgewählten Personen mindestens eine infizierte Person befindet, ist jedoch fast 20 Mal höher.
Zu Risiken und Nebenwirkungen, fragen Sie ihren Biostatistiker oder Epidemiologen
Weil sich Covid-19 zurzeit rasend schnell verbreitet, sind die Fallzahlen und Schätzungen vom 12. März längst wieder überholt. Und ich möchte an dieser Stelle klarmachen, dass man sich für verlässliche Schätzungen der Fallzahlen an epidemiologische Expertinnen und Experten wenden sollte. Mit meinem biostatistischen Wissen kann ich lediglich die Mathematik von statistischen Modellen beurteilen – nicht mehr. Da mein Forschungsschwerpunkt bei der Reproduzierbarkeit von Tierversuchen liegt, fehlt mir das domänenspezifische Wissen, um beurteilen zu können, wie realistisch eine bestimmte Fallzahlschätzung ist. Dennoch zeigen die obigen Berechnungen, dass es bei der gegenwärtigen Diskussion um Covid-19 Diskussion entscheidend ist, volle Transparenz zu schaffen in Bezug auf die Annahmen und Vereinfachungen, die einem mathematischen Modell zugrunde liegen. Andernfalls ist die Gefahr gross, dass Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten Verwirrung stiften statt Klarheit zu schaffen.
Ein weiteres Beispiel soll dies illustrieren. Das obige statistische Modell basiert unter anderem auf der Annahme, dass die Personen, die sich in einer Gruppe befinden, zufällig ausgewählt worden sind und dass eine infizierte Person genau die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, sich in einer solchen Gruppe zu befinden, wie eine nicht infizierte Person. Diese Annahme ist aber falsch. Einerseits können alle Fälle, die in Quarantäne oder in Isolation sind, nicht mehr in einer Gruppe von 20 Barbersuchern auftauchen. Ebenso haben die Massnahmen des Bundesrates dazu geführt, dass viele Menschen auf Covid-19 sensibilisiert wurden und eher zu Hause bleiben, wenn sie sich krank fühlen oder wenn sie Kontakt hatten mit jemandem, der oder die an Covid-19 erkrankt ist. Das sorgt dafür, dass die obigen Zahlen die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten überschätzen.
Umgekehrt gibt es viele milde Covid-19-Fälle, gerade unter jungen Menschen. Sollte dies dazu führen, dass eine Infektion unbemerkt bleibt, dann erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass unter einer Gruppe von 20 Personen mindestens jemand infiziert ist. Das führt dazu, dass die obigen Zahlen die tatsächlichen Wahrscheinlichkeiten bei solchen Personengruppen eher unterschätzen. Auch bei Covid-19 gilt also: Die Zahlen sprechen nicht für sich. Sie müssen genauso kontextualisiert und kritisch eingeordnet werden wie andere statistische Schätzungen.
Die Last der Verantwortung
Was schliessen wir nun aus solchen Berechnungen? Ich masse mir nicht an, Spekulationen darüber anzustellen, was gegen die Covid-19-Epidemie zu tun ist. Diese Einschätzung sollten wir den Expertinnen und Experten des Bundes überlassen wie auch den vielen Epidemiologen, Virologinnen und Public-Health-Fachleuten, die seit Wochen quasi in Echtzeit transparente und nachvollziehbare Informationen liefern. Epidemiologische Berechnungen – transparent und nachvollziehbar kommuniziert – können uns jedoch ein Gefühl dafür vermitteln, wohin die Covid-19-Pandemie steuert und warum Massnahmen, die im ersten Moment wie eine Überreaktion wirken, durchaus angemessen sein können.
Dennoch sollten wir unsere Erwartungen an Forschung und Behörden zügeln, denn das «Wundermittel» im Kampf gegen Covid-19 lässt sich nicht einfach aus dem Hut zaubern. Ohne selbstverantwortliches Handeln wird es nicht gehen. Wir haben es hier mit einem Feind zu tun, der sich weder mit lockeren Sprüchen noch besserwisserischen Ratschlägen bekämpfen lässt. Ein Feind, dessen Macht wir erst allmählich zu verstehen beginnen und dessen Schwächen wir noch kaum kennen. Der Ausbruch und die Verbreitung von Covid-19 ist mit derart vielen Unsicherheiten behaftet, dass Wahrscheinlichkeiten basierend auf evidenzbasierten Annahmen das Beste sind, was seriöse Forschende in Bezug auf den weiteren Verlauf der Pandemie zurzeit liefern können. Aber das ist nicht wenig: Solche Einschätzungen helfen den politischen Entscheidungsträgern dabei, die sich stetig wandelnde Lage richtig einzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren. Immer mit dem Ziel, die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung kurz-, mittel- und langfristig zu bewahren. Das ist eine Verantwortung, die wohl die wenigsten von uns tragen möchten, weshalb wir vorsichtig sein sollten mit voreiligen Schuldzuweisungen und destruktiver Kritik.
Relevante Interessenverbindungen
Ich arbeite in der Gruppe für Angewandte Statistik an der Universität Zürich. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.