In meiner Twitter-Bubble hat es in den letzten 24 Stunden eine erstaunliche Abfolge von Meldungen, an deren Ende die folgende Schlagzeile steht:
Die Abfolge geht so:
Das Tessin verhängt basierend auf dem Epidemiegesetz weitere Präventionsmassnahmen [0]
Viele Medien bezeichnen das als «Notstand», wohl weil der Tessiner Staatsrat bei der Verkündigung der Massnahmen von einem «stato di necessità» gesprochen hat [1].
Daniel Koch vom BAG sagt, dass wir im Rest der Schweiz ähnliche Massnahmen ergreifen werden wie im Tessin [2] (einige behaupten, er hätte dazu auch das Wort «Notstand» benutzt, aber ich konnte dazu noch nichts finden - anyone?)
Viele Schweizer Medien machen daraus Schlagzeilen à la «Auch Bund wird Notstand ausrufen» [e.g. 3]
Das BAG präzisiert, dass es nie etwas vom Ausrufen eines Notstands gesagt habe [4] (wohl auch deshalb, weil die Massnahmen im Tessin laut Juristen rein rechtlich keinen Notstand darstellen [5])
Der Tages-Anzeiger beschreibt das im Titel als «Zurückkrebsen» (siehe Bild & hier [6]), obschon die kommunizierte Position des BAG sich - soweit ich das erkennen kann - nicht verändert hat.
Hängen bleibt der falsche Eindruck, das BAG würde bzgl. der «Notstandsfrage» einmal dies und einmal das behaupten.
Mir geht es nicht drum, hier auf Medienschaffenden rumzureiten, weil sie das Wort «Notstand» im umgangssprachlichen und nicht im juristischen Sinne verwendet haben. Ohne die Erläuterungen eines Juristen hätte ich auch keine Ahnung gehabt, was die Unterschiede wären. Was viele Medienschaffende bzgl. Kontextualisierung und Einordnung zu Covid-19 bis anhin geleistet haben, finde ich ausserordentlich beeindruckend.
Ich kritisiere lediglich Situationen wie die obige, in denen eine Unsauberkeit in der Berichterstattung auf andere abgewälzt wird, statt klarzumachen, dass es sich bis zu einem gewissen Grad auch um eigene Fehler aufgrund mangelnder Differenzierung handelt.
Einige werden sagen, dass solche Differenzierung in besonderen Situationen wie der Covid-19-Epidemie nebensächlich seien. Doch gerade in solchen Situationen ist eine differenzierte und akkurate mediale Berichterstattung meines Erachtens entscheidend, um eine «geistige Rettungsgasse» für verlässliche und relevante Informationen sicherstellen zu können (der Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von einer Bekanntschaft auf Twitter [7])
Nicht nur das Verhalten von Behörden und wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, sondern auch das der Medienschaffenden wird mitbeeinflussen, wie reibungslos und effizient die weiteren Massnahmen gegen Covid-19 greifen werden und wie gross der Rückhalt dafür sein wird. Auch staatliche Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 sind letztlich auf das selbstverantwortliche Verhalten der Bevölkerung angewiesen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten. Hier tragen die Medien mE eine Mitverantwortung: Das Verbreiten von Gerüchten, Halbwahrheiten und undifferenzierten Forderungen trägt in erster Linie zu mehr Verunsicherung bei und erschwert eine rationale Reaktion auf besondere Lagen.
Ich hoffe deshalb, dass die mediale Berichterstattung weiterhin mehrheitlich differenzierend und kontextualisierend bleibt und nicht plötzlich ins Destruktive kippt.
Quellen:
[0] https://www.rsi.ch/news/ticino-e-grigioni-e-insubria/Il-decreto-del-Consiglio-di-Stato-ticinese-12832258.html/BINARY/Il%20decreto%20del%20Consiglio%20di%20Stato%20ticinese
[1] https://twitter.com/MarselSzopinski/status/1238045270178508800
[2] https://www.srf.ch/news/schweiz/corona-massnahmen-im-tessin-wird-der-rest-der-schweiz-nachziehen-herr-koch
[3] https://www.tagesanzeiger.ch/wissen/coronavirus/erstes-opfer-im-tessin-476-bestaetigte-faelle-pendler-meiden-die-sbb/story/27873684
[4] https://twitter.com/BAG_OFSP_UFSP/status/1238057342157160448
[5] https://twitter.com/LukaMarkic/status/1238024234653437954
[6] https://www.tagesanzeiger.ch/wissen/coronavirus/erstes-opfer-im-tessin-476-bestaetigte-faelle-pendler-meiden-die-sbb/story/27873684
[7] https://twitter.com/ak_text