Dieser Text wurde am 20. Juli 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
---
In seinem Gastkommentar «Corona und die Verhältnismässigkeit von Massnahmen: Die Sterblichkeit war im vergangenen Jahr geringer als 2015» versucht Frank Scheffold, die Gefahr von «Long Covid», also von langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach einer Covid-19-Erkrankung, kleinzureden. Die anfänglichen Behauptungen darüber seien «alarmistisch» gewesen angesichts der jetzt vorhandenen Evidenz. Zum Beleg verweist er auf eine Studie, die Kinder mit und ohne Covid-19-Erkrankungen verglich und dabei zum Schluss kam, dass erkrankte Kinder nicht häufiger unter langfristigen Beschwerden litten.
Ob die medialen Behauptungen zu Covid-19 tatsächlich alarmistisch gewesen sind, müssen letztlich Forschende beurteilen, die mehr von der Materie verstehen als ein Biostatistiker wie ich oder ein Physiker wie Scheffold. Eines steht aber fest: Ein Verweis auf eine einzelne Studie an Kindern reicht nicht aus, um die Warnungen in Bezug auf Long Covid als unbegründet abzutun. Scheffold begeht damit einen klassischen mereologischen Fehlschluss, indem er von einem Teil (einer einzelnen Studie über Kinder) auf das Ganze (alle Studien zu Long Covid in allen Altersgruppen) schliesst. Zumal die zitierte Forschungsgruppe um Milo Puhan auch Publikationen veröffentlicht hat, die zeigt, dass über zwei Drittel der untersuchten und mit SARS-CoV-2 infizierten Patienten nach 6 bis 8 Monaten noch nicht vollständig genesen sind oder an Erschöpfung, Atemnot oder Depressionen leiden.
Die standardisierte Sterblichkeitsrate
Auch die Schlussfolgerungen, die Scheffold aus einer zweiten Studie von Isabella Locatelli und Valentin Rousson zieht, sind zu relativieren: Locatelli und Rousson haben die Sterblichkeit nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt und damit eine «standardisierte Sterblichkeitsrate» berechnet. Das ist deshalb hilfreich, weil sich je nach Alter und Geschlecht unterschiedliche Sterblichkeitsraten ergeben. Weil die Alters- und Geschlechterverteilung in der Bevölkerung aber nicht konstant bleibt, können historische Vergleiche von unstandardisierten Sterblichkeitsraten in die Irre führen. Bei einer älter werdenden Bevölkerung wie in der Schweiz bedeutet das konkret, dass die unstandardisierte Sterblichkeitsrate auf die gesamte Bevölkerung bezogen gleich bleiben oder sogar steigen kann, obwohl sie in jeder einzelnen Altersgruppe abnimmt.
Locatelli und Rousson kommen zum Schluss, dass die standardisierte Sterblichkeitsrate 2020 auf das Niveau vor 5 bis 6 Jahren angestiegen ist – die unstandardisierte Sterblichkeitsrate entspricht jener vor ungefähr 20 Jahren. Auf die Gesamtbevölkerung berechnet, haben Schweizer durchschnittlich 7,5 Monate Leben eingebüsst im vergangenen Jahr, was weitaus weniger ist als die Reduktion von ungefähr 10 Jahren Lebenszeit während der Spanischen Grippe. Eine Erklärung liegt in der unterschiedlichen Altersverteilung bei den Toten: Bei der Spanischen Grippe waren Menschen im jungen Erwachsenenalter überproportional stark betroffen. Bei Covid-19 steigt die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, hingegen mit zunehmendem Alter stark an.
Doch das bedeutet nicht automatisch, dass Covid-19-Tote ohnehin bald gestorben wären, wie das einige behaupten. 2019 lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines in der Schweiz geborenen Mädchens bei gut 85 Jahren. Dennoch durfte eine Schweizerin, die im gleichen Jahr ihren 80. Geburtstag feierte, noch über zehn weitere Lebensjahre erwarten – und nicht bloss deren fünf. Bedingte Wahrscheinlichkeiten sind halt so eine Sache.
Sterblichkeit wäre ohne Massnahmen höher gewesen
Dennoch schliesst Scheffold aus der Publikation von Locatelli und Rousson, dass es «unklar» sei, inwieweit Covid-19-Todesfälle im Jahr 2020 durch die Corona-Massnahmen begrenzt worden seien – die Autoren würden dies offenlassen. Doch das ist doppelt falsch. Erstens schreiben die beiden Forschenden explizit, dass die Massnahmen «sicherlich die Ausbreitung des Virus und damit das Überfüllen der Spitäler und die Sterblichkeit» limitiert hätten.
Zweitens: Natürlich hilft die Reduktion von Kontakten dabei, die Verbreitung eines Virus und damit die Todesfälle aufgrund des Virus zu reduzieren. Welche der verschiedenen Massnahmen dabei mehr oder weniger effektiv waren, ist Gegenstand der aktuellen Forschung, doch dass die Sterblichkeit gänzlich ohne Massnahmen zur Eindämmung des Virus um ein Vielfaches höher gewesen wäre, wird nur noch von jenen bestritten, welche Covid-19 auch nach weltweit mehreren Millionen Toten zur harmlosen Erkältung verklären.
So weit geht Scheffold nicht. Dennoch kann der Eindruck entstehen, er wolle mit seinem Fokus auf die Vergangenheit das Leid der Gegenwart relativieren. Die Toten von gestern entschuldigen jedoch nicht das Sterben von heute. Schliesslich war die Sterblichkeitsrate Anfang des 19. Jahrhunderts, als in der Schweiz weder Impfungen noch Antibiotika noch Krebsmedikamente existierten, auch massiv höher als im vergangenen Jahr. Dennoch wäre es zutiefst unethisch, tatenlos dabei zuzusehen, wie Menschen an Aids, Tuberkulose oder Lungenkrebs sterben. Um das Ausmass der Sterblichkeit zu beurteilen, sind nicht die Verstorbenen von gestern, sondern die zu erwartenden Toten von heute massgeblich. Gemessen daran kam es 2020 trotz allen Schutzmassnahmen zu aussergewöhnlich vielen Todesfällen in der Schweiz.
Relevante Interessenverbindungen
Ich arbeite in der Gruppe für Angewandte Statistik an der Universität Zürich und bin Mitglied der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.