Ein Gastkommentar im Cicero-Magazin vom 29. November. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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Am 28. November 2021 hat die Schweizer Bevölkerung bereits zum dritten Mal darüber abgestimmt, welche Kompetenzen der Staat zur Bekämpfung der Pandemie haben soll. Den Anfang machte 2013 die Volksabstimmung über das Epidemiegesetz, bei dem 60% ein „Ja“ in die Urne legten. Sieben Jahre später dann der erste Prüfstein für das Gesetz: 2020 bricht die Covid-19 -Pandemie aus und trifft die Schweiz mit voller Wucht. Die Regierung ruft die „besondere Lage“ aus, nur um schon kurz darauf zur „außerordentlichen Lage“ überzugehen. Damit erhält sie weitreichende Kompetenzen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, und darf dabei auch Maßnahmen ergreifen, die normalerweise in der Hoheit der Kantone liegen oder einer Zustimmung des Parlaments bedürfen würden. So werden in kurzer Zeit Läden, Restaurants und Clubs geschlossen, Kontaktbeschränkungen ausgesprochen, aber auch weitreichende wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen aufgegleist.
Die außerordentliche Lage währt nur kurz: Nach drei Monaten erklärt die Regierung sie für beendet, geht zur „besonderen Lage“ zurück und gibt viel Verantwortung wieder an Parlament und Kantone ab. In der Folge werden verschiedene Pandemie-Maßnahmen, für die das Epidemiegesetz keine ausreichende gesetzliche Grundlage bietet, in das sogenannte „Covid-19-Gesetz“ überführt. Das geschieht freilich nicht ohne politischen Streit: Parteien und politische Interessenvertreter mischen sich genauso ein wie wissenschaftliche Expertengruppen, Wirtschaftsführer oder kantonale Regierungen. Auch die Schweizer Bevölkerung kommt zu Wort und kann gleich zweimal über unterschiedliche Aspekte des Gesetzes befinden. Im Juni 2021 stimmen knapp 60% zu, diesen November sind es 62%. Das Schweizer Pandemiemanagement mag weder das schnellste noch das effektivste sein, dafür ist es wohl das demokratischste auf der Welt.
Wenige Einschränkung wegen viel Demokratie
Die starke demokratische Kontrolle ist wohl auch ein Grund dafür, dass die staatlichen Maßnahmen über weite Strecken weitaus weniger einschneidend geblieben sind als in den Nachbarländern. So gab es in der Schweiz nie Ausgangssperren, der öffentliche und private Verkehr fuhr uneingeschränkt weiter, Schulschließungen blieben auf die Anfangsphase der Pandemie beschränkt, und Restaurants durften 2020 wieder Gäste empfangen, als viele Epidemiologen noch eindringlich vor weiteren Lockerungsschritten gewarnt haben. In Europa wurde Schweden lange als Beispiel für eine möglichst liberale Covid-19-Politik genannt. Doch nach bald zwei Jahren Pandemie darf man sagen: Die Schweizer haben über weite Strecken einen mindestens so freiheitlichen Weg eingeschlagen wie die Schweden.
Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieser Weg Einschränkungen nach sich gezogen hat. An die Maskenpflicht mussten sich Herr und Frau Schweizer genauso gewöhnen wie an Quarantäne- und Isolationsregeln. Auch viele Einkaufsläden, Restaurants, Sportclubs sowie Kinos, Clubs und andere Kultur- und Unterhaltungseinrichtungen mussten ihre Türen wiederholt schließen. Gegenwärtig ist zwar alles wieder offen, in vielen Fällen nur für jene, die eine Impfung, einen negativen Covid-Test oder einen Nachweis über eine Genesung (kurz: ein Covid-Zertifikat) vorweisen können. Auch das ist zweifellos eine Einschränkung, doch werden die Freiheiten der Bevölkerung dadurch weitaus weniger verletzt als mit Lockdowns für alle.
Dass es trotzdem heftige Kritik am Pandemiemanagement gibt, ist weder überraschend noch alarmierend, sondern Ausdruck einer lebendigen Demokratie. Es wäre besorgniserregend, würden Einschränkungen von Freiheiten von der gesamten Bevölkerung kritiklos hingenommen. Doch bei aller Liebe zur persönlichen Freiheit sollte man nicht vergessen, dass der Staat auch eine Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung hat. Aus diesem Grund ist auch beruhigend zu sehen, dass die Politik auch von vielen dafür kritisiert wird, zu viele Kranke und Tote in Kauf genommen zu haben. In diesem Rahmen hätte sich ein harter, aber durchaus produktiver politischer Streit entfalten können. Voraussetzung dafür ist aber ein Minimum an Respekt – nicht nur vor dem politischen Gegner, sondern vor allem vor demokratischen Prozessen und Prinzipien. Doch dieser scheint einigen komplett abhandengekommen zu sein.
Kein Respekt vor Demokratie und Rechtsstaat
Insbesondere unter den Gegnern der Pandemie-Massnahmen dringt eine Rhetorik durch, die den Bezug zur Realität vollends verloren hat: Die Rede ist von „Diktatur“, „Apartheidstaat“ und „Genozid“. Die Menschenrechte würden nicht mehr gelten, in der DDR sei es viel weniger schlimm gewesen und unter den Nationalsozialisten habe es auch so angefangen.
Viel schwerer als diese absurden und geschichtsvergessenen Vergleiche wiegt jedoch das zutiefst undemokratische Gebaren, das einige Maßnahmengegner, darunter auch Wortführer, an den Tag legen. Für sie steht fest: Wenn ein Abstimmungsergebnis nicht so ausfällt, wie sie es gerne hätten, dann steckt Betrug dahinter. Andere rufen zur Sezession auf, erteilen sich selber staatliche Vollmachten und stilisieren sich zu „politischen Gefangenen“. Damit rütteln sie unverfroren an demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien und haben dabei noch die Chuzpe, sich immer wieder als Kämpfer für eben diese Prinzipien zu inszenieren. Aus diesen Gründen befürchteten die Sicherheitsbehörden auch Ausschreitungen und riegelten – zum ersten Mal in der Schweizer Geschichte – am Abstimmungstag vorsorglich das Regierungsgebäude ab.
In ihrem revolutionären Furor ziehen viele eine direkte Linie zwischen ihrem Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen und dem Schiller’schen Freiheitskampf der Eidgenossen gegen den unterdrückerischen Landvogt Gessler. Doch die realitätsferne Rhetorik und der fehlende Respekt vor demokratischen Institutionen erinnert eher an Trump als an Tell. Befeuert durch die auf Klicks und Views ausgerichtete Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen und traditionellen Medien ist der Trumpismus auch in der Schweiz angekommen.
Dazu passt der Unwille, demokratische Entscheide zu akzeptieren: „Wir betrachten […] das Ergebnis des Urnengangs als nicht legitim und für uns nicht bindend“, schreibt eine maßnahmenkritische Organisation nach ihrer Niederlage und zeigt damit, dass ihr Widerstand gegen die Coronamaßnahmen längst ins Undemokratische gekippt ist. Andere fordern den Aufbau von Parallelgesellschaften, um den demokratischen Willen zu unterlaufen.
Das Volk kann für sich selbst sprechen
Freilich teilen nicht alle, die vor den Abstimmungen einmal wöchentlich „Liberté“ skandierend durch die Schweizer Straßen gezogen sind, die undemokratischen Tendenzen ihrer Mitstreiter. Die Maßnahmengegner sind in der Schweiz so divers wie anderswo auch, weswegen das selbstherrliche und undemokratische Gebaren einiger selbsternannter Freiheitshelden auch in den eigenen Reihen immer wieder hart kritisiert wird.
Das stimmt zuversichtlich, dass die demokratische Tradition in der Schweiz stark genug ist, um den gegenwärtigen Angriffen standzuhalten. Hinzu kommt, dass regelmäßige Volksabstimmungen einen Realitätscheck über die politischen Einstellungen der Bevölkerung bieten. In einer repräsentativen Demokratie ist es vergleichsweise einfach, sich bei einzelnen politischen Geschäften als einzig wahre Stimme des Volkes zu inszenieren. In der halbdirekten Demokratie der Schweiz muss man dafür den Nachweis an der Urne erbringen, um halbwegs glaubwürdig zu bleiben. Mit Referenden und Initiativen stehen mächtige politische Instrumente zur Verfügung, um den Volkswillen zu befragen. Wer fragt, sollte jedoch auch bereit sein, die Antwort zu akzeptieren.
In einer Demokratie kann es eine Vielzahl von politischen Bruchlinien geben, ohne dass der Zusammenhalt gefährdet ist. Konträre Weltbilder haben darin genauso ihren Platz wie die heftigen ideologischen Auseinandersetzungen, die sich daraus ergeben. Bedrohlich wird es jedoch, wenn demokratische Grundregeln und Prozesse offen abgelehnt und attackiert werden. Eine Rückbesinnung auf das Gemeinsame statt auf das Trennende, wie es beispielsweise die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG fordert, tut deshalb not.
Die SGG ist nicht irgendein Verein, sondern die Verwalterin des „Rütli“, jener sagenumwobenen Wiese, auf der die Vertreter der Schweizer Urkantone der Legende nach den „Rütlischwur“ geleistet haben. Der Schwur steht im Gründungsmythos der Schweiz nicht nur für Widerstand und Wehrhaftigkeit, sondern auch für Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen einen scheinbar übermächtigen Feind. Von diesem Geist würde die Schweiz auch in der Pandemie profitieren – nur sollte sie merken, dass der Feind dieses Mal nicht die Habsburger Krone, sondern ein gekröntes Virus ist.
Relevante Interessenbindungen
Keine. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.