Ein Artikel aus der NZZ vom 07. Mai 2022, gemeinsam verfasst von Servan Grüninger und Claudio Paganini. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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Akademisches Publizieren ist oft absurd. Begreifen lässt das sich am besten mit einer Metapher: Das Publikationssystem funktioniert wie ein Bauernhof, auf dem die Kühe nicht nur die Milch produzieren, sondern sich dazu noch selber melken, die Milch auf ihre Qualität überprüfen und in Flaschen abfüllen. Dann bezahlen sie dem Bauer Geld, damit er ihnen die Flaschen abnimmt, nur um ihm erneut Geld dafür zu zahlen, die selbst produzierte Milch trinken zu dürfen.
So seltsam das alles klingen mag, beschreibt es doch die Realität vieler Wissenschafter: Sie forschen, verfassen basierend darauf wissenschaftliche Publikationen und überprüfen die Publikationen anderer Forschender auf ihre Verlässlichkeit. Auch die sprachliche Überarbeitung und das Formatieren der Texte liegt meist in der Verantwortung der Autoren. Für all diese Arbeiten erhalten die Forschenden keine Vergütung. Im Gegenteil: Viele wissenschaftliche Verlage bitten sie gleich doppelt zur Kasse. Sie verlangen Geld für das Publizieren von Artikeln und machen auch das Lesen kostenpflichtig, indem sie die Publikationen hinter Paywalls verbergen.
Viele Forschende lassen sich das gefallen, weil in der akademischen Welt alles an guten Publikationen hängt. Egal, ob man neue Forschungsgelder braucht oder sich auf eine der raren Festanstellungen bewirbt: Ohne wissenschaftliche Artikel im Lebenslauf läuft nichts.
Auch die Positionen von Universitäten in internationalen Hochschulrankings werden wesentlich von Publikationen in renommierten Fachzeitschriften bestimmt. Und nicht zuletzt wird die Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift innerhalb und ausserhalb der Wissenschaft als Prüfstein für die Verlässlichkeit der publizierten Ergebnisse angesehen. Die wissenschaftlichen Verlage haben dadurch eine enorme Macht – und diese nutzen sie aus.
Publizieren oder krepieren
Wenig erstaunlich, dass die Gewinnmargen der Verlage geradezu obszön hoch sind. Insofern hat Jan Söffner recht, wenn er in einem jüngst erschienenen Artikel die Fehlanreize im akademischen Publikationssystem anprangert. Doch der Kulturwissenschafter führt die Missstände auf die Open-Access-Bewegung zurück – und hier geht er fehl: Die Bewegung ist nämlich angetreten, das wissenschaftliche Publizieren aus dem ausbeuterischen Korsett der Grossverlage zu lösen. Gerade die beschriebenen Probleme haben sie dabei angetrieben.
Wenn Forschende von der Wissensproduktion bis zur Publikation alles selber machen müssen, so die Überlegung, dann soll die Allgemeinheit, welche diese Arbeit grossmehrheitlich finanziert, zumindest freien Zugang erhalten zu den Forschungsergebnissen. Inwiefern diese Allgemeinheit davon Gebrauch macht, ist Gegenstand gegenwärtiger Forschung. Doch dass Open Access die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit der wissenschaftlichen Literatur verringert, wie Söffner suggeriert, ist abwegig.
Ohne Open Access würden sich nämlich noch mehr wissenschaftliche Publikationen hinter teuren Paywalls verstecken. Diese stellen insbesondere für Forschende in Entwicklungs- und Schwellenländern eine gewaltige Hürde dar und schliessen sie de facto aus aktuellen akademischen Debatten aus – aber auch Forschende in der Schweiz sind davon betroffen.
Das kritische Denken aus den Wissenschaften ist omnipräsent - man muss nur hinschauen
Und wie sieht es mit der inhaltlichen Zugänglichkeit der wissenschaftlichen Texte aus? Jan Söffner bedauert, dass die «Lesbarkeit und Pointiertheit» der Publikationen zusehends verlorengehe und grundsätzlich das ausserakademische Publikum aus den Augen gerate.
Zwar sind tatsächlich nicht wenige akademische Texte von unnötigem Jargon aufgebläht, doch nicht alles muss laienfreundlich geschrieben sein. Primärer Zweck des akademischen Publizierens ist es nicht, die öffentliche Debatte zu befeuern, sondern neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu teilen. Ein gewisses Vorwissen darf bei den Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden, sonst würden neue Erkenntnisse in Publikationen in einem Wust von Erklärungen verschwinden.
Für die öffentliche Wahrnehmung sorgen derweil andere Kanäle, denn auch für Wissenschafter gilt, dass der Berg nicht zum Propheten kommt. Um die Öffentlichkeit zu erreichen, müssen sie sich jener Medien bedienen, die auch öffentlich zugänglich sind – das kann von Einschätzungen in den sozialen Netzwerken und den traditionellen Medien über persönliche Blogs und Podcasts bis hin zu populärwissenschaftlichen Sachbüchern reichen. Die Nachfrage dafür ist auf jeden Fall vorhanden. Auch um das laienfreundliche Taschenbuch mit intellektuellem Anspruch ist es mitnichten geschehen: Sachbücher erfreuen sich auf dem Büchermarkt steigender Beliebtheit.
Als Leser reibt man sich deshalb verwundert die Augen, wenn Jan Söffner feststellt, dass das kritische Denken für die Öffentlichkeit zunehmend unsichtbar werde. Haben wir nicht gerade eine Pandemie durchlebt, in der wissenschaftliche Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen in der Öffentlichkeit omnipräsent waren und – auch in Buchform – engagiert an gesellschaftspolitischen Debatten teilgenommen haben?
Laut Söffner ist das Taschenbuch ein «technisch überlegenes Medium der Intellektualität». Doch wer kritisches Denken an ein bestimmtes Medium knüpft, traut Intellektuellen wenig und der Allgemeinheit noch weniger zu. Digitale Medien haben das Potenzial, die öffentlichen Debatten weiter zu demokratisieren und aus Einwegkommunikation einen echten Dialog zu schaffen: Das kritische Denken ist heute in der Öffentlichkeit nicht nur präsenter, sondern auch zugänglicher denn je.
Relevante Interessenbindungen
Keine. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.