Ein Artikel aus dem Reatch-Blog vom 31. Mai 2022, gemeinsam verfasst von Hannah Schoch, Jonas Wittwer und Servan Grüninger. Den Original-Text gibt es hier zu lesen.
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Wer Teilzeit arbeitet, schöpfe sein Potential nicht aus und lebe auf Kosten anderer, meinte Andrea Franc in einem jüngst erschienen NZZ-Interview. Der teilzeitarbeitende Leser und die – noch häufiger – teilzeitarbeitende Leserin haben sich dabei wohl verdutzt die Augen gerieben: Hat nicht die Pandemie gezeigt, wie wichtig die unbezahlte Care-Arbeit ist – im Krisen- und im Normalfall? Sind Eltern, die zugunsten der Kinderbetreuung Teilzeit arbeiten, etwa Sozialschmarotzer? Und vor allem: Sind wir nicht ein Land von ehrenamtlichen Milizler*innen, in dem vieles nur deshalb funktioniert, weil Menschen enorm viel Zeit in die Vereinsarbeit stecken – oft auf Kosten eines 100%-Pensums?
Franc zielte freilich nicht auf alle Teilzeitarbeitenden, sondern nur auf jene mit einem Universitätsstudium, genauer: mit einem geisteswissenschaftlichen Abschluss. Dennoch irrt sie, wenn sie das Ausschöpfen von Potential auf das Ausschöpfen von Stellenprozenten reduziert. Vielmehr stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Geisteswissenschaftler*innen für eine funktionierende Gesellschaft leisten und welche Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Bildung für die komplexen Herausforderungen von heute und morgen zukommt.
Vielfältige Rollen und zentrale Skills
Geisteswissenschaftler*innen haben in den letzten Monaten Russlands Krieg in der Ukraine eingeordnet. Sie setzen sich mit Phänomenen wie sozialen Netzwerke und Fake News auseinander, übernehmen Führungsfunktionen in der Privatwirtschaft, unterrichten an Schulen, sind verantwortlich für Innovation und die Vermittlung zwischen Kulturregionen bei Grossunternehmen. Nicht zuletzt hat seit vielen Jahren auch die Tech-Branche den Wert einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung erkann - eine Branche also, deren man kaum vorwerfen kann, einen zu geringen volkswirtschaftlichen Beitrag zu leisten. Wer Angehörige der Geisteswissenschaften pauschal in einen Topf wirft, um sie gegen andere Berufsleute auszuspielen, übersieht die vielfältige Bedeutung, die das geisteswissenschaftliche Wissen in unserer Gesellschaft spielt.
Natürlich forschen Geisteswissenschaftler*innen auch an Dingen frei von wirtschaftlichem Nutzen, doch das tut man auch in der Biologie und Physik, in den Computerwissenschaften und der Astronomie. Die Erforschung ferner Galaxien oder das Graben nach Jahrmillionen alten Fossilien sind keine Tätigkeiten, die einen unmittelbaren monetären Mehrwert bringen. Im Gegenteil: Generell kosten die Natur- und Ingenieurswissenschaften die Steuerzahler wegen immenser Infrastrukturkosten einiges mehr als die Geisteswissenschaften. Dass sich die Gesellschaft auch Forschung ohne wirtschaftlichen Nutzen leistet – egal ob in den Geistes- oder den Naturwissenschaften – liegt daran, dass auch Fragen jenseits wirtschaftlicher Tätigkeit von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Relevanz sind.
Zwar sind die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu manch anderem Studiengang nicht auf einen einzigen Beruf ausgerichtet, doch das ist durchaus als Stärke zu werten. Die Studierenden bringen nach Abschluss des Studiums eine Reihe von Fähigkeiten mit, die breit nachgefragt sind: komplexe Informationen klar und kondensiert kommunizieren zu können oder vernetztes und kreatives Denken, zum Beispiel. Ein Studium der Geisteswissenschaften lehrt die Einordnung der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in historische und soziale Gesamtzusammenhänge. Die Studierenden funktionieren entsprechend auch als Ideengeber für soziale, politische und kulturelle Initiativen, welche zu einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft beitragen.
Die Qualität muss stimmen
Damit die Geisteswissenschaften aber ihre gesellschaftliche Wirkung entfalten können, muss die Qualität des Studiums stimmen, da hat Andrea Franc recht. Das Problem ist aber weniger die Motivation der Studierenden, sondern mehr die Organisation des Wissenschaftsbetriebs. Die Lehre ist für Wissenschaftler*innen immer noch häufig eine Nebenaufgabe. Was wissenschaftlich zählt, sind Forschungsergebnisse und Publikationen.
Dazu kommt, dass die Studierendenzahl – und damit die Lehrlast – seit Jahren steigt und unterhalb der Professur fast alle Mitarbeitenden in befristeten Teilzeitpensen angestellt sind. Die meisten verlassen also nach wenigen Jahren ihren Arbeitgeber und wechseln an eine andere Universität im In- oder Ausland – ganz ungeachtet ihrer Qualität als Forschende oder Dozierende. In der Folge müssen beständig neue Mitarbeitende in die administrativen Abläufe eingearbeitet werden. Bei einer Quote von 80% befristet Angestellten wird ein stetiger Erfahrungsverlust erzwungen, der gravierende Auswirkungen auf Lehre und Betreuung der Studierenden hat. Bei angelsächsischen Universitäten, von denen Franc schwärmt, liegt die Quote der befristet Angestellten im Schnitt bei 30%, also unvergleichlich tiefer.
Die Schweiz ist stolz auf die Qualität ihrer Hochschulen. Es ist aber illusorisch zu glauben, ohne strukturelle Anpassungen könne man immer mehr Studierende ausbilden, ohne Qualitätsverluste hinnehmen zu müssen. Gute Studierende sind in erster Linie auf motivierte Dozierende angewiesen und für guten Unterricht brauchen diese den Raum und die Anreize, sich auf die Lehre fokussieren und in ihre pädagogischen Fähigkeiten investieren zu können.
Diese Herausforderungen anzugehen, ist alles andere als einfach. Das Klischee der faulen Studierenden zu bedienen, wie das Andrea Franc tut, mag für Schlagzeilen sorgen, trägt aber nichts zur Problemlösung bei.
Relevante Interessenbindungen
Als Doktorand bin ich selber befristet an einer Universität angestellt. Ich bin im Vorstand verschiedener Vereine, deren Geschäftsstellen mehrheitlich aus teilzeitarbeitenden Personen bestehen. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.