Dies ist eine leicht redigierte Version eines Texts, der erstmals am 22. April 2015 in NZZ Campus erschienen ist.
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Wissenschaft muss nützen, so eine verbreitete Haltung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Intuitiv ist das erst einmal nachvollziehbar: Wozu Zeit und Geld in etwas investieren, das keinen wie auch immer gearteten Nutzen bringt?
Spannend ist dabei die Frage, wie dieser Nutzen aussehen soll. Für viele ist die Antwort klar: Praxisrelevant muss Forschung sein; zu wirtschaftlich verwertbaren Ergebnissen soll sie führen; dem Wohl der Menschen hat sie zu dienen. Die Liste mit Forderungen an die Adresse der Wissenschaft liesse sich beliebig verlängern. Demgegenüber wird Forschung, deren einziger Zweck die Gewinnung neuen Wissens, oft als unnütze Spielerei oder gar als Verschwendung von Steuergeldern betrachtet.
Problemlösung ab Fliessband
Wissenschaft wird dabei als universell einsetzbare «Problemlösungsmaschine» betrachtet — verbunden mit der Erwartung, dass besagte Maschine unablässig und unverzüglich Antworten auf all jene Fragen liefert, mit der wir sie füttern. Problemlösung ab Fliessband, sozusagen. Und wenn dieses Fliessband kein verwertbares Produkt ausspuckt, dann sehen viele darin ein Versagen der Wissenschaft.
Dabei geht vergessen, dass jeder Massenproduktion zuerst ein Prototyp vorangeht. Und um einen solchen Prototyp bauen zu können, müssen wir erst das nötige Wissen und die richtigen Werkzeuge zur Hand haben. Auch der brillanteste Forscher benötigt die entsprechenden wissenschaftlichen Ingredienzien, um seine Ideen in die Tat umsetzen zu können. Schliesslich kann auch der kreativste Koch keine kulinarisches Köstlichkeiten schaffen, wenn ihm nur Wasser, Spaghetti und Salz zur Verfügung stehen.
Jedes Massenprodukt braucht einen Prototyp
Wenn das Fliessband kein verwertbares Produkt ausspuckt, dann sehen viele darin ein Versagen der Wissenschaft. Dabei geht vergessen, dass jeder Massenproduktion zuerst ein Prototyp vorangeht. Und um einen solchen Prototyp bauen zu können, müssen wir erst einmal das nötige Wissen und die richtigen Werkzeuge zur Hand haben. Auch der brillanteste Forscher benötigt die entsprechenden wissenschaftlichen Ingredienzien, um seine Ideen in die Tat umsetzen zu können. Schliesslich kann auch der kreativste Koch kein kulinarisches Meisterwerk schaffen, wenn ihm nur Wasser, Spaghetti und Salz zur Verfügung stehen.
Genau deshalb ist es so wichtig, dass die Forschung nicht nur die praktische Verwendbarkeit ihrer Ergebnisse im Auge behält, sondern sich auch um die Erarbeitung von grundlegendem Wissen kümmert.
Entdeckungsreise statt Fliessbandproduktion
Dazu braucht es aber die Bereitschaft und die Entschlossenheit, die eigene Wohlfühlzone zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen – ohne zu wissen, wo die Reise enden wird. Forschung ist ein langer und beschwerlicher Lernprozess, der mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten verbunden ist; Rückschläge und Neuausrichtungen gehören zum Tagesgeschäft; ebenso die beständige Korrektur von Fehlern und die Überarbeitung bisheriger Erkenntnisse. Mit «Problemlösung ab Fliessband» hat das nur wenig zu tun; näher liegt da der Vergleich mit einer Entdeckungsreise in unbekannte Länder.
Als sich Christoph Kolumbus aufmachte, um eine neue Seepassage nach Ostasien zu finden, war es alles andere als gewiss, dass er je wieder festen Boden unter den Füssen haben würde. Neben ungenauen Karten hatte er lediglich seinen Kompass, seine Kursberechnungen und die Fähigkeiten seiner Mannschaft, auf die er sich stützen konnte.
Genauso geht es Forschungskapitänen, wenn sie ihr Schiff über den Ozean des (Nicht‑)Wissens steuern. Die wissenschaftliche Methodik, kritisches und kreatives Denken sowie die Erkenntnisse ihrer Vorgänger und Forscherkollegen bieten die einzige Unterstützung auf dem Weg zu einer neuen Entdeckung. Und welche Folgen diese Entdeckungen habe — ob sie ihre Mühen tatsächlich wert sind oder damit die Büchse der Pandora geöffnet worden ist —, wird in der Regel erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand ersichtlich.
Die Entdeckung der Neuen Welt
Auch Kolumbus’ Entdeckungsfahrten hatten Konsequenzen, die vor Abreise kaum absehbar waren. Wobei das eigentlich Ziel der Reise, die Entdeckung einer Reiseroute nach Ostasien, verfehlt wurde. Doch das Wissen, das Kolumbus und seine Seefahrerkollegen durch ihre Expeditionen gewinnen konnten, läutete für viele europäische Grossmächte ein goldenes Zeitalter der Entdeckungen ein. Ein Zeitalter, das denen, die von den Europäern entdeckt wurden, jedoch Tod und Verderben brachte. Heute würde wohl niemand mehr bestreiten, dass die Wiederentdeckung Amerikas durch die Europäer eines der entscheidendsten und weitreichendsten Ereignisse der frühen Neuzeit war — im Guten wie im Schlechten.
Genauso vermag eine wissenschaftliche Errungenschaft auf den ersten Blick unspektakulär oder gar «unnütz» erscheinen – nur um dann zu einem späteren Zeitpunkt ihre volle Wirkung zu entfalten und das Tor zu einer neuen Welt aufzustossen — mit all ihren positiven und negativen Konsequenzen.
«Praxisrelevanz» ist nicht alles
Wissenschaft darf nützen – ohne Zweifel. Doch wir sollten uns davor hüten, «praxisrelevanter» Forschung automatisch einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen als der Erforschung jener Grundlagen, welche die Entwicklung von praxisbezogenen Anwendungen überhaupt erst möglich machen.
Jede dieser Anwendungen baut schliesslich auf der Arbeit unzähliger Forscherinnen und Forscher auf, welche sich der schwierigen und unberechenbaren Aufgabe gestellt haben, in neue Gefilde des Wissens vorzustossen — wohlwissend, dass ihre Entdeckungen nur der Ausgangspunkt für weitere beschwerliche Reisen in der Welt der Wissenschaft sein würden.
Relevante Interessenbindungen
Keine. Siehe hier für eine vollständige Liste aller Interessenverbindungen.